Die detaillierten Regeln, die uns Juden vorgeschrieben sind, lassen uns manches, was andere Menschen nicht im Blick haben, stärker aus moralischer Sicht wahrnehmen. Manchmal scheint ein Detail unbedeutend zu sein, trifft aber genau den Punkt, den wir zu beachten haben.
Kissui HaDam, die Bedeckung des Blutes, ist ein Gebot, von dem man selten hört. Manche Menschen können kein Blut sehen, andere finden es einfach nicht schön, und der Geruch ist auch nicht angenehm. Es gibt also genug Gründe für Kissui HaDam.
Egal, ob Fleischesser, Vegetarier oder Veganer – alle Menschen wollen etwas Schönes und Sauberes auf dem Teller haben. Niemand stellt neben sein Schnitzel ein Bild des Hähnchens, von dem das Schnitzel stammt. Würde man dies tun, würden Kinder, aber auch manche Erwachsene wohl auf das Schnitzel verzichten.
SCHWÄCHE Dass es dem Menschen erlaubt ist, Fleisch zu essen, zeigt, dass Rücksicht genommen wird auf die Schwäche des Menschen. Nur weil man damit rechnet, dass der Mensch seinen Trieb nicht beherrschen kann, wurde ihm der Fleischverzehr gestattet. Dabei muss er aber vieles beachten, um sich daran zu erinnern. Er herrscht zwar über die Tiere, aber er muss lernen, auch sich selbst zu beherrschen. Dazu sagt uns die Tora (5. Buch Mose 12,23): »Sei stark, um das Blut nicht zu verzehren.«
Es ist klar und bekannt, dass das Tier beim Schächten ausblutet. Die Tora befiehlt dem Schächter, das Blut mit Erde zu bedecken. Er soll so schächten, dass das Blut auf die Erde läuft. Warum?
Als die Hebräer in Ägypten lebten, waren sie zwangsläufig dem Einfluss des dortigen Kultes ausgesetzt: Sie sahen, wie die Ägypter Blut für ihren Götzendienst benutzten. Das beeinflusste die Hebräer, und so gingen sie recht unbedarft mit dem Blut von Tieren um, schreibt der mittelalterliche Kommentator Raschi (1040–1105). G’tt musste darauf reagieren. Er konnte dem Volk nicht erlauben, dies weiter so zu praktizieren. Daher mussten Regeln aufgestellt werden.
KONFLIKT Jeder, der Fleisch isst, gerät in einen inneren Konflikt. Es stellen sich Fragen, auf die man Antworten finden muss. Falls man nicht reflektiert, steigt man nicht auf die nächste Lebensstufe. Ein Mensch ist imstande zu verstehen, dass das Verzehren von Fleisch befremdlich ist, da auch Tiere das Recht auf Leben haben. Und wenn uns Menschen schon der Fleischkonsum erlaubt ist, so soll dies bei den heiligen Ritualen im Tempel geschehen. Man schächtet und isst Fleisch nicht zum Vergnügen. Wenn man es schon tut, dann muss es einen guten Grund dafür geben.
Wenn der Mensch aber nicht in der Lage ist, genug Geduld aufzubringen, um auf seinen nächsten Tempelbesuch zu warten, und sofort Fleisch essen will – was macht er dann? Er erklärt, es gäbe einen wichtigen Anlass, und meint, dass er durch das verzehrte Tierfleisch den Tieren ein neues Lebensniveau schenkt, da sie jetzt ein Teil des Menschen werden. Schön sind diese Gedanken – aber vollkommen falsch! Denn der Mensch hatte einfach nur Appetit auf Fleisch und versucht dies mit Argumenten zu rechtfertigen.
VORWAND Zur Zeit des Tempels behauptete manch einer, er würde zu weit entfernt vom Heiligtum wohnen und könne daher nicht nach Jerusalem kommen, um dort aus einem wichtigen kultischen Anlass Fleisch zu essen. Ihm muss man vorwerfen, dass nicht der Tempel weit entfernt von ihm ist, sondern umgekehrt – er ist zu weit entfernt vom Heiligtum! Er schächtet nur deshalb so viel, weil er Fleisch essen möchte, und nicht, um etwas Spirituelles zu erreichen, also dass Tiere sich in Menschenkörper verwandeln.
Obwohl der Mensch die Erlaubnis bekommen hat, Fleisch zu verzehren, muss er achtgeben und vorsichtig sein! Das Blut ist die Seele! Es soll auf die Erde gegossen werden, damit man es sich auf keinen Fall wie andere Flüssigkeiten zum Getränk macht! Auch wenn dem Menschen das Fleisch erlaubt wurde, soll er auf diese Regel achten, um ein gewisses moralisches Niveau zu behalten.
So erklärt Rabbi Mosche Alschech (1508–1593) die zurückhaltende Erlaubnis, die uns die Tora gibt, Fleisch überall und nicht nur im Tempel zu schächten und zu verzehren (5. Buch Mose 12, 20–28).
Grausamkeit soll vermieden werden. Das Blut ist für uns der Sitz der Seele – sowohl bei Menschen als auch bei Tieren. Wir sollen das Blut daher mit Respekt behandeln. Wir sollen uns schämen, dass wir ein Tier geschlachtet haben. Dafür sind wir beauftragt, das Blut nach dem Schächten mit Sand zu bedecken (Sefer Hachinuch, Gebot 147). Diese Mizwa betrifft Geflügel und Wild. Nach dem Schächten von Vieh (Rindern, Schafen und Ziegen) wird das Blut nicht bedeckt. Vieh kommt auf den Altar, und sein Blut dient zur Versöhnung für uns.
Tiere in Massen zu schächten, ist nicht erwünscht. Die Erlaubnis, Tiere überall und nicht nur im Tempel zu schächten und zu essen, bezieht sich auf Wild und Geflügel – Tiere, die grundsätzlich nicht domestiziert waren. Schächtet man Vieh, das zu Hause ist, entstünden dadurch Hunger und der Wunsch, täglich Fleisch zu verzehren, schreibt der Kli Jakar, Rabbiner Shlomo Ephraim Luntschitz (1550–1619). Gehe man hingegen jagen, so mache man sich quasi auf die Suche nach Fleisch. Man werde also nicht immer Zeit und Kraft zum Jagen haben und deshalb insgesamt weniger Fleisch essen. Der Mensch solle aber darauf achten, dass er nur Tiere jagt, die niemandem gehören. Dies erschwere das Ganze, dadurch habe der Mensch noch weniger Lust auf die Jagd.
Aus all dem sollen wir eine moralische Lehre ziehen. Mit der Bedeckung des Blutes erinnert sich der Mensch, dass auch er »nur« ein Lebewesen ist, das Haschem geschaffen hat. Er ist aus Erde gemacht und kehrt dorthin zurück. Er soll daran denken, dass er – falls er sich moralisch nicht verbessert – nicht viel anders sein wird als das geschächtete Tier, dessen Blut er jetzt bedeckt und dessen Fleisch er jetzt verzehrt.
Rav Abraham Isaak Kook (1865–1935) erklärt, dass diese Mizwa der Erziehung der Menschen dient. Auch wenn wir alle noch nicht reif sind zu verstehen, dass wir kein Fleisch essen sollen, werden wir dadurch, dass von uns Scham erwartet wird, dazu erzogen. Eines Tages aber werden wir es verstehen und darauf verzichten, Fleisch zu essen (Chason Hazimchonut 23).
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Frankfurt/Main und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).
inhalt
Der Wochenabschnitt Re’eh beginnt mit den Worten, die Mosche an das Volk richtet: »Siehe, Ich lege heute vor euch Segen und Fluch!« Den Segen erhalten die Bnei Israel, wenn sie auf die Gebote G’ttes hören. Der Fluch wird über sie kommen, wenn sie sich nicht entsprechend verhalten und sich fremden Götzen zuwenden. Bei den nachfolgenden
Ritualgesetzen geht es um die Errichtung eines zentralen Heiligtums, um Schlachtopfer, die Entrichtung des Zehnten (Ma’aser) und um die Erfüllung von Gelübden (Neder). Dann folgen die Speisegesetze, und zum Schluss werden die Regeln für das Schabbatjahr beschrieben und die Feiertage Pessach, Schawuot und Sukkot sowie die damit verbundenen Vorschriften erwähnt.
5. Buch Mose 11,26 – 16,17