Pro - Rabbinerin Offenberg begrüßt eine neue Sefaria-Fassung auf Englisch: »Viele Facetten werden sichtbar.«
Jede Übersetzung ist ein Ärgernis! Selten ist sie besser als das Original – und das wäre in Bezug auf Bibelübersetzungen auch ein fundamentales theologisches Problem. Übersetzungen können nur Annäherungen sein, denn keine Sprache lässt sich 1:1 in eine andere übertragen. Wenn es um in ihrer Struktur so verschiedene Idiome wie Hebräisch und Englisch (oder Deutsch) geht, sind Bedeutungsverluste oder -änderungen unausweichlich.
Wenn also die Übersetzung ganz nahe am Original bleiben will, ist sie meistens schwer verständlich und erfordert selbst Auslegung. Wenn eine Übersetzung aber vorwiegend die Leserschaft in den Blick nimmt, wird sie sich auf deren Sprache und Vorstellungswelt einlassen, um die Inhalte gut lesbar und verständlich zu machen. Eine gendersensible Bibelübersetzung ins Englische ist ja noch relativ einfach, da die Substantive in dieser Sprache kein grammatisches Geschlecht haben.
artikel Im Deutschen hingegen ist alles ein »er«, »sie« oder »es«. Auf die Artikel lässt sich nicht verzichten, und wo man im Englischen mit der Bezeichnung »God« geschlechtsneutral bleibt, ist es im Deutschen eben »der Gott«, was sich auch auf alle Personalpronomina auswirkt. Es bleibt mit »er/ihm/ihn«, egal ob klein oder in Majuskeln wiedergegeben, eben eine Rede von Gott im Maskulinum.
Im Hebräischen verstärkt sich dieser Effekt noch durch die Verbformen, die ja ebenfalls nach Geschlechtern unterscheiden. Und das hat Spuren in unseren Gottesbildern hinterlassen. Wer einwendet, dass Gott kein Geschlecht hat und es bei »Herr«, »König«, »Vater« lediglich um metaphorische Beziehungsbilder geht, würde doch andersherum als Gottesbezeichnung nie »Herrin«/»Königin«/»Mutter« verwenden.
In stark gegenderten Sprachen kommen wir nicht aus der Falle heraus, dass wir von Gott wie von einem Mann reden. Zumindest nicht in deutschen Bibelübersetzungen; eine Alternative könnte sein, im Gebet die immer gleiche Gottesanrede als »König der Welt« mal durch »Quelle des Lebens« zu variieren, um sich bewusst zu machen, dass wir in vielen Formen und Bildern von Gott denken können. Gegenderte Sprache engt uns da ein.
»Bei der Übersetzung von Gottesnamen erweisen sich auch die orthodoxen Bibelausgaben als Auslegung.«
Der Widerstand gegen die gendersensible Übersetzung der New Jewish Publication Society (NJPS) richtet sich wohl aber auch dagegen, dass stets das englische »God« verwendet wird, ohne dabei zu unterscheiden, ob im Original das Tetragrammaton oder Elohim steht (wobei zugleich niemand verlangt, Letzteres gemäß der Pluralform als »Götter« zu übersetzen). Mit solch einer Vereinheitlichung geht natürlich die Differenzierung verschiedener Gottesbezeichnungen im Original verloren. Aber gerade bei der Übersetzung von Gottesnamen hat sich bisher jede Bibelausgabe – auch die orthodoxen! – als Auslegung erwiesen.
lesarten Das Beste an verschiedenen Übersetzungen ist, dass sie unterschiedliche Facetten und Lesarten des Textes sichtbar machen. Freilich wäre es vorzuziehen, wenn alle Leser und Leserinnen so flüssig im biblischen Hebräisch wären, dass sie den Tanach mühelos verstehen. Aber das wird wohl der messianischen Zeit vorbehalten bleiben müssen, und so lange werden wir mit Übersetzungen arbeiten.
Es wäre toll, wenn alle jüdischen Bibelübertragungen ins Deutsche online bei Sefaria abrufbar wären. Jede und jeder kann schon jetzt unter den vorhandenen Übersetzungen eine, die dem eigenen sprachlichen und theologischen Geschmack entspricht, als Standardpräferenz einstellen. Man kann einen Vers anklicken und sich über das Resource Panel daneben auch all die anderen Übersetzungsangebote anzeigen lassen.
Gegenwärtig ist die Zahl der dafür zur Verfügung stehenden deutschen Textausgaben noch gering. Je nach biblischem Buch sind es die der Rabbiner Samson Raphael Hirsch, Simon Bernfeld, Joseph Breuer, Joseph Wohlgemuth und Isidor Bleichrode. Es fehlen leider die Digitalisate von Moses Mendelssohn, Leopold Zunz, Ludwig Philippson, Naftali Herz Tur-Sinai, Martin Buber, Franz Rosenzweig und anderer, die ja neben der Übertragung der biblischen Schriften auch wichtige Meilensteine der deutsch-jüdischen Geschichte sind.
nutzungsrechte Doch das ist, wie mir die Sefaria-Geschäftsführerin Sara Wolkenfeld erklärte, vornehmlich eine Frage der Nutzungsrechte, die von den Verlagen der genannten Übersetzungen möglichst kostenfrei bereitgestellt werden müssten, denn Sefaria lebt überwiegend vom Crowdsourcing, von den geistigen und finanziellen Beiträgen der Nutzerinnen und Nutzer.
Meiner Meinung nach würden sich die Verlage bei einer Gratis-Lizenz nichts vergeben: Das Textstudium bei Sefaria ersetzt keine Tanach-Ausgabe im Bücherregal, viele Bibelausgaben würden aber durch den Online-Zugriff viel populärer. Und Raum für Versuche von gendersensibler Übersetzung wäre da auch noch – »Pluralismus statt Bann!« möchte ich denen zurufen, die dann gleich den Himmel einstürzen sehen. Aber ohnehin kann ich nicht verstehen, wenn jemand freiwillig verzichtet, auf den großartigen Schatz von Sefaria zuzugreifen.
Ulrike Offenberg ist Historikerin, Judaistin und Rabbinerin der Jüdischen Gemeinde Hameln.
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CONTRA - Rabbiner Evers lehnt es ab, den Grundtext der Tora an die »Wünsche des Volkes« anzupassen.
In der neuen digitalen »gendersensiblen« Übersetzung der Hebräischen Bibel der New Jewish Publication Society (NJPS) sind die Änderungen am Ausgangstext relativ gering. Zum Beispiel lautete die ursprüngliche Übersetzung von Jesaja 55,6 von JPS aus dem Jahr 1985: »Suchet den HERRN, solange Er zu finden ist, rufet Ihn an, solange Er nahe ist.« Jetzt heißt es: »Suche GOTT, solange du kannst, rufe an, solange (Gott) nahe ist.«
Viele orthodoxe Juden haben nun ihre Ablehnung gegenüber den neuen Übersetzungen zum Ausdruck gebracht. Was ist ihr Problem? Gʼtt hat keinen Körper und kein Geschlecht. Wenn wir kein »er« oder »sie« verwenden, betonen wir, dass das Höchste Wesen kein Geschlecht kennt.
korrektur Aber so einfach ist es nicht. Hier wird am Grundtext der Tora, der Verfassung und dem Existenzrecht des jüdischen Volkes gerüttelt. Auch hier ist eine sofortige Korrektur erforderlich: Es geht nicht um die Hebräische Bibel, sondern nur um die NJPS-Übersetzungen ins Englische. Es geht darum, dass wir heute in einer geschlechtersensiblen Gesellschaft leben, die meint, dass alles an die neuen Werte und Normen angepasst werden muss.
Das gilt auch für die englische Übersetzung des Tanachs, der für die meisten Menschen als primäre Quelle des Wissens über das Judentum gilt. Das ist ein prinzipieller Punkt. Ich bin der Meinung, dass die Quellentexte original bleiben sollten. Eine Anpassung dieser Grundtexte an die »Wünsche des Volkes« lehne ich daher grundsätzlich ab. Selbst wenn es sich nur um eine Übersetzung handelt.
Aber bleibe ich damit mir selbst und meinem talmudischen Hintergrund treu? Der Talmud macht eine verblüffende Aussage: »Die Tora spricht in menschlicher Sprache« (B.T. Nedarim 3a). Einfach erklärt, bedeutet dies: Gʼtt ist unendlich groß, der Mensch ist äußerst begrenzt. Die Größe Gʼttes zeigt sich darin, dass er in der Lage ist, unendliche Konzepte in begrenzten Begriffen, einfachen Geboten und interessanten Episoden zu erklären. In diesem Sinne tue ich als Rabbiner fast nichts anderes, als die alten Texte – vom Tanach bis zum Talmud – zu aktualisieren und sie einem modernen Publikum zugänglich zu machen. Warum darf ich das tun und die NJPS und Sefaria nicht?
»G’tt hat keinen Körper und kein Geschlecht. Aber so einfach ist es nicht. Der Tanach ist nicht wertfrei.«
Ich versuche nicht, grundlegende Texte zu verändern. Ich möchte lediglich grundlegende jüdische Begriffe auf eine Weise erklären, die für moderne Menschen verständlich ist. Ich mache Gʼttes Texte so ansprechend wie möglich für mein Publikum. Und das hat nicht nur mit meiner Berufsethik als orthodoxer Rabbiner zu tun, sondern auch mit grundlegender Ehrlichkeit und der theoretischen Frage, was eine wirklich jüdische Übersetzung des Tanachs eigentlich bedeutet.
spaltung Die Frage, was nun eine Bibelübersetzung spezifisch jüdisch macht, spaltet die Lager. Die einen betonen den Quelltext. Eine jüdische Übersetzung hält sich vollständig an den überlieferten hebräischen Text, den sogenannten masoretischen Text. Mehrere Bibelübersetzer verwenden auch andere Quellen wie die Septuaginta, die Vulgata und sogar die Schriftrollen vom Toten Meer. Es gibt sogar Übersetzer, die »Textverbesserungen« vornehmen, die den Überlieferungen widersprechen. Dies ist natürlich kein jüdischer Ansatz.
Eine zweite Gruppe betrachtet eine Übersetzung als jüdisch, wenn sie sprachlich jüdisch ist. Der jüdische Charakter drückt sich dann in einem speziellen Vokabular aus, das (ursprünglich) nur von Juden verwendet wurde: Jüdische Eigennamen und spezifische Begriffe werden in der hebräischen Form beibehalten. Mosche bleibt Mosche und wird nicht zu Mose. Pessach, Omer und Jom Hakippurim bleiben einfach bestehen. Eine dritte Sichtweise könnte man als »exegetisch« bezeichnen. Übersetzen heißt erklären.
»Jüdisch« sind also die Interpretationen des Tanachs, die aus dem Midrasch und dem Talmud stammen. Dies war immer die traditionelle Art der Übersetzung, die wir in den verschiedenen Targumim (Übersetzungen) ins Aramäische finden, die schon vor dem Mittelalter in Israel und Babylonien entstanden, wie der Targum Jonatan und der von Onkelos. Die arabische Übersetzung von Saʼadja Gaon aus dem 10. Jahrhundert ist ein weiteres Beispiel. Eine Übersetzung muss immer eine Auswahl treffen.
ziele Einen fünften Ansatz, den ich selbst favorisiere, könnte man als religiös-ideologisch bezeichnen. Ich betrachte eine Bibelübersetzung nur dann als jüdisch, wenn die Übersetzung den Zielen des Tanachs so weit wie möglich dient und die ursprünglich beabsichtigte Bedeutungsstruktur klar herausstellt. Der Tanach ist nicht wertfrei. Eine formale, rein technische Übersetzung ohne Rücksicht auf den jüdischen Hintergrund ist ein Freibrief für eine unjüdische Auslegung.
Eine jüdische Übersetzung sollte dieses Manko vermeiden. Ein bekanntes italienisches Sprichwort lautet: »Traduttore, traditore« – Übersetzung ist Verrat. Die Sekundärübersetzung steht eigentlich außerhalb des traditionellen jüdischen Zugangs zur Tora. Lasst uns alle richtiges Hebräisch lernen und zu unseren religiösen Grundlagentexten zurückkehren.
Raphael Evers war langjähriger Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf und lebt nun in Israel.