Es ist mir oft aufgefallen, in wie vielen Dingen sich die Denkweise von Gläubigen verschiedener Religionen gleicht – jedenfalls trifft das auf Christen und Juden zu. (Über östliche Religionen weiß ich nicht genug, um mich dazu zu äußern, und was den Islam betrifft, scheinen die Gemeinsamkeiten zunehmend von Ressentiments, Xenophobie und einem sich immer weiter ausbreitenden Todeskult verdrängt zu werden.)
Am Morgen nach den amerikanischen Präsidentschaftswahlen im vergangenen Jahr erklärte der Politologe Michael Barone, die tiefe Spaltung der amerikanischen Gesellschaft verlaufe entlang der Grenze zwischen religiösem Glauben und Nichtglauben. Auf der einen Seite stehen jene, die »einer überlieferten Religion angehören, privat großzügig spenden, das freie Unternehmertum schätzen und der Regierung misstrauen«. Auf der anderen Seite finden sich all die, die »nicht religiös sind (...), dem Kapitalismus misstrauen und die Regierung als Instrument für die Durchsetzung linker Anliegen unterstützen«.
Die religiösen Streitigkeiten zwischen Protestanten und gläubigen Katholiken, schreibt Barone, gehörten der Vergangenheit an, da die beiden Gruppierungen sich in ihrer Haltung zu einer großen Zahl sozialer Themen weitgehend angeglichen hätten. Er hätte genauso gut das orthodoxe Judentum nennen können.
tragödie Sieht man sich die Reaktionen auf ein tragisches Ereignis größeren Ausmaßes an, sei es von Menschen gemacht oder einer Naturkatastrophe geschuldet, tritt die Trennung zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen deutlich zutage. Der Gläubige neigt dazu, die Tragödie als Ansporn zur Selbstprüfung und zur Prüfung der Gesellschaft, in der er lebt, zu nehmen. Und als Mittel, an seiner Beziehung zu seinen Mitmenschen und zu Gott zu arbeiten. Er lebt in einer Welt, die reich ist an Metaphern und erfüllt von Fingerzeigen, wie man das eigene Verhalten verbessern kann.
Dagegen ist es unwahrscheinlich, dass der Nichtgläubige, im Geiste der Aufklärung aufgewachsen und überzeugt, die menschliche Vernunft brauche keine fremde Hilfe, in sich geht. Zwar legt er ein rhetorisches Lippenbekenntnis ab in dem Sinne, die Nation als Ganzes müsse sich nach einer Tragödie einer Selbstprüfung unterziehen, doch sich selbst meint er damit nicht. Er fordert eine solche Bestandsaufnahme nur, um die Bösewichter zu identifizieren und neue Gesetze aus dem Hut zu zaubern, die sie in Schach halten.
Naturkatastrophen sind für den Nichtgläubigen in doppelter Hinsicht schmerzlich. Sie sind eine jähe Erinnerung an die Grenzen der menschlichen Macht. Hurrikan »Sandy« ließ sich nicht per Gesetz verbieten. Im Nachhinein kann man natürlich die Frage stellen, ob die Schäden viel, viel geringer ausgefallen wären, hätte man Milliarden, wenn nicht Hunderte von Milliarden Dollar in den Bau riesiger künstlicher Barrieren gegen den Ozean gesteckt, in Erwartung eines Naturereignisses, das es in dieser Größenordnung noch nie gegeben hatte.
Und zumindest unter einer republikanischen Regierung finden sich Gelegenheiten, dort die Schuldigen auszumachen. Aber wenn ein Mitglied der Demokratischen Partei im Weißen Haus sitzt, fällt auch dieser Trost weg. Doch wo der Nichtgläubige nur sinnlose Zerstörung sieht, erkennt der Gläubige trotz alledem die Chance von Wachstum.
Reaktionen Der Unterschied in den Reaktionen von Gläubigen und Nichtgläubigen ist genauso groß angesichts von Tragödien, die von Menschen verursacht wurden, wie vor Kurzem der Massenmord in Newtown, Connecticut, bei dem 26 Menschen, darunter 20 Kinder, ermordet wurden. Ganz im Sinne aufklärerischer Selbstgewissheit und voller Vertrauen in die Fähigkeit der Gesetze, menschliches Verhalten zu steuern, rief Präsident Obama eine Regierungskommission ins Leben und versprach die baldige Verabschiedung neuer Gesetze.
Doch eine solche legalistische Reaktion lässt sich kaum als vernünftig, das heißt auf Beweisen und/oder Logik basierend, bezeichnen. Jeder einzelne Vorschlag, den privaten Waffenbesitz zu beschränken, der derzeit diskutiert wird (viele dieser Vorschläge haben keine Chance, denn wenn man sich die jüngste Rechtsprechung zum Second Amendment ansieht, würde ihre Umsetzung gegen die amerikanische Verfassung verstoßen), wurde irgendwann bereits ausprobiert, ohne viel zu bewirken.
Solche gesetzlichen Antworten, die »narzisstische Selbstmorde« (so der treffende Ausdruck von Autor Mark Steyn) in Zukunft tatsächlich weniger tödlich machen könnten, werden von den Gerichten bereits im Vorfeld verworfen. Die gesetzlichen Beschränkungen, die die Einweisung eines geistig Kranken ohne seine Einwilligung praktisch unmöglich machen, werden nicht gelockert.
sühne Und ganz gleich, wie viel statistisches Material Juraprofessor John Lott und Wirtschaftsprofessor William Landes in ihrem Artikel »Öffentliche Schießereien mit zahlreichen Opfern« zur Stützung ihrer These herangezogen haben, dass nämlich das einzige bewiesene Mittel, öffentliche Schießereien weniger tödlich zu machen, darin besteht, Gesetze zu verabschieden, die das verborgene Tragen von Waffen erlauben – sodass sich die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass jemand, der fähig ist, den Täter zu erschießen, am Tatort ist –, man kann getrost voraussagen, dass die Verabschiedung solcher Gesetze garantiert nicht zu den Empfehlungen gehört, die die Kommission des Präsidenten aussprechen wird.
Obwohl legalistisch der Form nach, will der Ruf nach dem Gesetz Sühne, unter Ausklammerung jeglichen Gefühls von persönlicher Schuld: Irgendetwas, egal was, muss getan werden, um zu zeigen, dass wir Menschen unter Kontrolle sind. Einige Mitglieder des linken Kommentariats haben sogar die gezielte Tötung der Führer der National Rifle Association vorgeschlagen.
isolation Der einzige Artikel über den Massenmord in Newtown, Connecticut, der mehr war als der Versuch, eine schreckliche Tragödie zu nutzen, um für das eigene politische Lieblings-Steckenpferd Propaganda zu machen, wurde mir von Rabbi Shlomo Goldberg, einem Lehrer in Los Angeles, zugeschickt. Als Einstieg in seine Überlegungen diskutiert er den hohen Grad an Isolation in der heutigen Gesellschaft.
Viel zu viele unserer jungen Menschen leben einen großen Teil ihres Lebens in einem virtuellen Universum ohne
menschlichen Kontakt. Das ursprüngliche Markenzeichen für iPods und iPads war ein gesichtsloser Mensch, der mit sich allein tanzt. Musik zu hören und zur Musik zu tanzen, waren in vergangenen Zeiten gesellschaftliche Aktivitäten. Heutzutage tanzt jeder nach seiner eigenen Liste von Lieblingssongs, die ihm und nur ihm allein durch den Kopfhörer geliefert werden.
Isolation in einem privaten virtuellen Universum, in dem Tod und Körperverletzung keine permanenten Folgen haben, führt dazu, dass extreme Grausamkeit weniger unvorstellbar ist. Das Wort für Grausamkeit in der heiligen Sprache, Loschen Hakodesch, ist achzariut, das als ach (nur) zarut (Fremdheit, Entfremdung) gelesen werden kann: Je weniger wir uns anderen Menschen verbunden fühlen, umso leichter ist es, sie mit Brutalität zu behandeln.
Verfall Im Gegensatz zur Welt des schwindenden persönlichen Kontakts und des Verfalls des Gemeinschaftslebens, wie sie Robert Putnam in seinem Buch Allein Kegeln: Kollaps und Wiederbelebung der amerikanischen Gemeinschaft beschreibt, ist die Tora die Vision einer Welt, in der ein Mensch sich mit seinem eigenen Selbst, mit seinen Mitmenschen und mit Gott verbindet.
In einer Rede, die er in der Zeit zwischen dem Sechstagekrieg 1967 und dem Jom-Kippur-Krieg 1973 vor vielen weltlichen Kibbuzim hielt, nahm der verstorbene Rabbi Shlomo Wolbe als Ausgangspunkt eine Aggadata im Traktat Menachos (53b): Lasst den Yedid (geliebten Freund), der der Sohn eines Yedid ist, kommen und einen Yedid für den Yedid im Teil des Yedid aufbauen, sodass die Yedidim dadurch Sühne vollbringen.
Der Talmud deutet diese Worte so: Lasst König Schlomo, den Sohn des Avraham Avinu, kommen und den Tempel für Gott errichten, im Lande des Stammes von Benjamin, sodass das jüdische Volk Sühne vollbringen kann. Der Talmud liefert Textbelege, dass alle Genannten und alles Genannte anderswo als yedid bezeichnet werden. Das Wort yedid besteht aus dem verdoppelten Wort Hand (yad): Ein guter Freund ist einer, mit dem Sie Hand in Hand gehen. Die obskure Sprache der Aggadata stellt also die Welt als eine Verbindung zu Gott und durch Ihn zu all Seinen Geschöpfen dar.
Rabbi Goldberg geht von der Annahme aus, dass soziale Missstände mit dem Versagen des menschlichen Charakters zu tun haben und die Verbesserung des menschlichen Charakters den Schlüssel zur Korrektur sozialer Missstände darstellt. Er benützt diese Einsicht nicht dazu, anderen Menschen die Überlegenheit der Tora-Gemeinde um die Ohren zu schlagen, sondern als ein Werkzeug zur Schaffung von mehr Verbundenheit in unseren Gemeinschaften und Schulen – zum Beispiel, indem die Gesetze vom Menschen und seinem Nächsten gelehrt werden.
zusammenhalt Der soziale Zusammenhalt, dessen Fehlen Rabbi Goldberg beklagt, ist in verschiedenen religiösen Gemeinschaften in höherem Maß vorhanden. Wenn es um Wohltätigkeit, ehrenamtliche Tätigkeiten und Zugehörigkeit zu einer Gruppe geht, schneiden religiöse Menschen wesentlich besser ab als nichtreligiöse, wie Michael Barone belegt.
Die einzige tatsächlich ethnisch gemischte Gruppe, die ich jemals erlebt habe, war eine kirchliche Gruppe aus Terry Haute, Indiana, mit der ich einmal im Flugzeug saß. (Obwohl das College, an dem ich studierte, vollständig integriert war, aßen die schwarzen Studenten nur mit anderen schwarzen Studenten.)
Ein andermal fuhr ich mit zwei jungen Mormonen von Chicago nach Milwaukee. So seltsam sich ihre Theologie in meinen jüdischen Ohren auch anhörte, erkannte ich ihre Beschreibung der Organisation von Mormonen-Gemeinden, gegliedert in Einheiten von zehn, 100 und 1000 – für jede Gruppierung sind verschiedene Leute zuständig – sofort wieder. Sie stammt direkt aus der Parascha Jitro, in dem Mosche Rabbeinu von seinen Schwiegervater angeraten wird (ein Ratschlag, der später die göttliche Imprimatur erhält), Führer für zehn, 50, 100 und 1000 zu benennen. Das Maß der gegenseitigen Verantwortung in ihren Gemeinden, das die beiden jungen Mormonen beschrieben, hätte auch als Modell für meine eigene Gemeinde dienen können.
»Siehe, ich habe dir heute vorgelegt das Leben und das Gute, den Tod und das Böse, der ich dir heute gebiete, dass du den Herrn, deinen Gott, liebst« (5. Buch Mose 30, 15-6). Der große mittelalterliche Kommentator Ibn Ezra entnahm dem Vers, dass »die Bedeutung des Lebens ist die Liebe«. Auch das ist eine Botschaft, die die Gläubigen verschiedener Religionen unterschreiben können.