»Damit unsere Kinder auch weiterhin in Sicherheit und Frieden in Europa aufwachsen können, müssen die religiösen Gemeinschaften und die Gesamtgesellschaft zusammenarbeiten und gemeinsam Hass und Extremismus bekämpfen«, sagte Pinchas Goldschmidt, Präsident der Europäischen Rabbinerkonferenz (CER) und Oberrabbiner von Moskau, am vergangenen Donnerstag in Berlin.
Bei einem Workshop zum Thema Religion und Sicherheit, der von der CER in Kooperation mit der Interreligiösen Allianz für sichere Gemeinschaften (Interfaith Alliance for Safer Communities) in Berlin-Mitte organisiert wurde, kamen Politiker, führende Vertreter verschiedener Religionsgemeinschaften und Wissenschaftler zum Austausch zusammen.
politisierung Leitthema war die Rolle der Religionen in den heutigen Gesellschaften Europas und des Nahen Ostens. Im Zentrum stand dabei die Frage, wie und von wem Religionen politisiert beziehungsweise instrumentalisiert werden und wie religiöse Gemeinschaften gegen Radikalisierungstendenzen in ihren eigenen Reihen vorgehen können. »Die Politik hat die Religion lange Zeit ignoriert und den Gemeinschaften zu wenig Beachtung geschenkt«, konstatierte Rabbiner Goldschmidt.
Dies sei falsch, nicht nur, weil einzelne Religionsgemeinschaften anfällig seien für extremistische Tendenzen, sondern auch, weil die Communitys als Partner im Kampf gegen ebendiese fungieren müssten. »Religion ist für viele Menschen Hoffnung, und als solche kann sie auch Teil der Lösung für ein friedliches Miteinander sein«, sagte Goldschmidt.
Durch den kooperativen Ansatz soll der Brückenschlag zwischen Religionen, der Politik und Nichtregierungsorganisationen gelingen.
Der Workshop in Berlin knüpfte an eine CER-Konferenz zum Thema Religion und Hassverbrechen in Moskau im August 2019 an. Ziel des Veranstaltungsformats im kleinen Kreis ist es, durch den intensiven Austausch religiöse Führungspersönlichkeiten aus jüdischen, muslimischen und christlichen Gemeinden zu befähigen, für die Sicherheit der Religionsgemeinschaften zu arbeiten und Herausforderungen wie Extremismus, Radikalisierung und Terrorismus aktiv anzugehen.
Durch den kooperativen Ansatz soll der gemeinsame Brückenschlag zwischen Religionen, Nichtregierungsorganisationen und der Politik in den verschiedenen Handlungsfeldern gelingen.
Zum Einstieg in die Diskussion in Berlin referierte Peter Neumann, Politikwissenschaftler am Londoner King’s College, zu den Begriffen Terrorismus und Hasskriminalität. »In der öffentlichen Diskussion wird Terrorismus meistens als ein Gewaltakt bezeichnet, der im Namen einer bestimmten Organisation aus einer bestimmten Ideologie heraus ganz gezielt durchgeführt wird, während Hasskriminalität eher als spontaner Ausbruch von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit gesehen wird«, analysierte Neumann. In der Realität seien diese Grenzen hingegen nicht eindeutig zu ziehen.
Terror »Wenn der mit starken Emotionen konnotierte Begriff ›Terror‹ vor allem auf Anschläge mit islamistischem Bezug angewandt wird, werden andere Formen des Terrorismus, wie zum Beispiel von Rechtsextremen, verharmlost«, so Neumann. Ein Verbrechen aus Hass müsse nicht immer Ausdruck rein physischer Gewalt sein.
»Wenn jemand wegen seiner Kippa auf der Straße verbal beleidigt wird, ist das auch eine Straftat, die aus Hass begangen wurde«, erklärte der Wissenschaftler. Die Politik müsste sich des Problems viel stärker annehmen. »Hasskriminalität ist Gift für die Gesellschaft, da sie im Endeffekt tödlich ist.«
Auch Viola van Melis bescheinigte der Politik in Deutschland Handlungsbedarf. »Die politischen Parteien ignorieren das Thema Religion weitestgehend, da es unbequem erscheint«, sagte die Leiterin des Zentrums für Wissenschaftskommunikation des Exzellenzclusters »Religion und Politik« der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Durch das Nichtthematisieren von Religionsfragen würde man das Feld den Populisten überlassen, kritisierte van Melis. »Die Politik hat die Partnerschaft mit den Religionsgemeinden jenseits der großen Kirchen in Deutschland verschlafen«, konstatierte die Wissenschaftlerin.
Stephan Kramer, Präsident des Amtes für Verfassungsschutz Thüringen, betonte: »Die Religion ist für viele Menschen ein Navigationssystem, das ihnen Halt gibt und stabilisierend wirkt.« So bedeute der Islam nicht automatisch Radikalisierung und Extremismus. »Nicht der Islam als Religion ist gefährlich, sondern einzelne Gruppierungen, die sich auf ihn berufen.«
Für seine Arbeit als Verfassungsschützer sei die Zusammenarbeit mit den Gemeinden und religiösen Führern entscheidend. »Wir brauchen Communitys, die kooperieren und sich integrieren wollen, wir brauchen aber auch eine politische Kultur, die den Gemeinden ihrerseits die Hand reicht«, so Kramer.