Um das Ansehen der Religion im Allgemeinen steht es heutzutage – um es vorsichtig zu formulieren – nicht gerade zum Besten. Unter den vielen Gründen, aus denen diese Situation erwachsen ist, ragt einer heraus, der zumindest dem Anschein nach logisch klingt: Schuld an dieser Misere sei das blinde und unnachgiebige Festhalten an uralten Schriften, die direkt oder indirekt von G’tt gekommen sein sollen.
Schuld sei das strikte Befolgen ebenjener Schriften, auf die sich heutzutage immerhin mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung – mal mehr, mal weniger – beruft. Namentlich die Tora, das Neue Testament und der Koran – also jene Schriften, die den monotheistischen Weltreligionen als Grundlage dienen.
rolle Nun spielen wir Juden in dieser Aufzählung zumindest zahlenmäßig eigentlich nur eine untergeordnete Rolle. Eine Tatsache, die den amerikanischen Schriftsteller Milton Himmelfarb zu der Bemerkung veranlasste, dass die Zahl der Juden auf der ganzen Welt geringer sei als die statistische Abweichung bei der chinesischen Volkszählung. Aber erstens sind die Juden historisch nun einmal die Proto-Monotheisten, also diejenigen, die die Idee des einen und einzigen G’ttes hervorbrachten, und zweitens haben wir alle schon in der Schule gelernt, dass Quantität nicht gleichbedeutend mit Qualität ist.
Insofern lohnt sich ein Blick auf das jüdische Testament, die jüdische Bibel oder anders ausgedrückt: die Tora. Diese – zumindest nach traditioneller Ansicht – von G’tt am Berg Sinai offenbarte Schrift besteht aus den fünf Büchern Mose und umreißt, grob gesagt, die Zeitspanne von der Schöpfung der Welt bis zum Tode unseres Lehrers Mosche. Und obgleich sie im christlichen Sprachgebrauch meist abwertend als »Altes Testament« bezeichnet wird, ist sie für uns Juden der Nucleus, der Kern, aus dem das Judentum und das jüdische Leben entstanden sind und auch fortwährend ihre Kraft beziehen.
Attacken Doch gerade diese Eigenschaft, dieser Wesenskern der Tora verführte seit jeher die Kritiker und Gegner des Judentums dazu, sich an dem überlieferten Wort G’ttes abzuarbeiten und durch die Attacken auf das Fundament letztlich die darauf fußende Religion anzugreifen. Ein Hauptargument war und ist dabei die Kritik an der wörtlichen Lesart dieser historischen Schrift, die ihre Anhänger zu blinden Fundamentalisten mache, die das eigene kritische Denken an der Garderobe ihrer Bethäuser abgeben und sich dem Text bedingungslos unterwerfen.
Wenn diese Kritiker doch nur wüssten, wie falsch sie liegen! Denn eines kann man dem Judentum ganz bestimmt nicht vorwerfen: dass es die Tora, also die jüdische Bibel, wörtlich nimmt. Aber weshalb sollte es eigentlich anders sein, wenn eben dieses Buch zur Grundfeste des Judentums gehört? Und wird nicht dauernd aus diesem Buch gelesen und zitiert?
Die Antwort darauf liegt Jahrtausende zurück und lässt bei genauerem Hinsehen erkennen, dass es heute wohl keinen einzigen Juden auf der ganzen Welt geben dürfte, der die Tora von Anfang bis Ende wörtlich nimmt. Nach traditioneller Vorstellung wurde Mosche und dem jüdischen Volk am Berg Sinai vor gut 3300 Jahren nämlich nicht nur eine schriftliche Tora – die altbekannten und inzwischen in einer Schriftrolle überlieferten fünf Bücher Mose – offenbart, sondern darüber hinaus auch eine mündliche Tora. Genauer gesagt, wurde diese mündliche Tora von Mosche empfangen, der diese wiederum weitergab und lehrte, sodass sich eine ununterbrochene Überlieferungskette bildete.
Doch was genau ist diese mündliche Tora eigentlich? Und weshalb brauchte man sie? Reichten denn die fünf Bücher Mose nicht aus? Und wenn noch weitere wichtige Informationen hätten niedergeschrieben werden sollen, weshalb ist dies dann nicht geschehen?
Interpretation Die mündliche Tora ist gewissermaßen die Interpretation und Auslegung der jüdischen Bibel. Sie ist die Gebrauchsanweisung für die Umsetzung all der in der schriftlichen Tora enthaltenen Ge- und Verbote. Sie ist die stetig weitergegebene und in gesprochenes Wort gefasste praktische Anwendung einer scheinbar starren, auf Pergament niedergelegten Heiligen Schrift.
Ohne die mündliche Tora wäre gesetzestreues jüdisches Leben kaum vorstellbar. Das beginnt schon damit, dass es praktisch unmöglich wäre, die Bibel im Original lesen, geschweige denn verstehen zu wollen, wenn es keine begleitende mündliche Tradition geben würde. Denn die Tora ist bekanntlich in hebräischer Schrift geschrieben, und diese ist eine reine Konsonantenschrift. Ohne die dazugehörigen Vokale, ohne eine Überlieferung, die uns erklärt, wie welches Wort überhaupt zu lesen ist, wären wir sprichwörtlich aufgeschmissen!
Um ein kleines Beispiel zu geben: Im Zusammenhang mit der Kaschrut – also den jüdischen Speisevorschriften – heißt es, dass man das Zicklein nicht in der Milch seiner Mutter kochen solle. Im Hebräischen buchstabiert man die Konsonanten des Wortes »Milch« – »Chalaw« – aber ebenso wie diejenigen des Wortes Fett – »Chelew«.
Ohne die mündlich überlieferte Kenntnis der Vokale, also ohne das Wissen, welches Wort eigentlich gemeint ist, könnte man auf die Idee kommen, dass es verboten sei, das Zicklein im Fett seiner Mutter zu kochen. Dies bedeutet quasi ein Frittierverbot. Und das, so heißt es hinter vorgehaltener Hand, wäre wirklich eine Katastrophe für das jüdische Volk, dem eine Leidenschaft für Frittiertes nachgesagt wird.
Zeichensetzung Doch zurück zur schriftlichen Tora. Diese wird im Original ohne Satzzeichen in Kolumnen geschrieben, sodass nur aufgrund der Überlieferung klar wird, wo ein Satz oder ein Absatz beginnt oder endet. Bereits als Kinder lernen wir, dass eine veränderte Zeichensetzung den Sinn eines Satzes vollständig verändern kann. So ergeben die folgenden Sätze ohne korrekte Zeichensetzung absolut keinen Sinn: »Zehn Finger habe ich an jeder Hand. Fünf und zwanzig an Händen und Füßen.« Sobald man allerdings nur zwei Satzzeichen verändert, wird alles klar und logisch: »Zehn Finger habe ich. An jeder Hand fünf. Und zwanzig an Händen und Füßen.« Schon für das reine Textverständnis der Heiligen Schrift ist es also unabdingbar, diese zusätzlichen Informationen zu besitzen, um sie überhaupt lesen, vor allem aber verstehen zu können.
Darüber hinaus gibt es eine ganze Reihe von Ge- und Verboten, die ohne weitergehende Erklärungen unverständlich blieben. So heißt es etwa in der Tora, dass die Tiere so geschlachtet werden sollen, »wie G’tt es dir befohlen hat«. Nirgends in der schriftlichen Tora findet sich allerdings auch nur der leiseste Hinweis darauf, wie das funktionieren soll.
An einer anderen Stelle ist die Rede von sogenannten Totafot, die man als Zeichen an der Hand und zwischen den Augen tragen soll – ohne allerdings zu erklären, was diese Totafot eigentlich sind. Bei den Regelungen zum Schabbat, dem Ruhetag einer jeden Woche, ist ein Arbeitsverbot formuliert, ohne jedoch nur im Entferntesten eine schriftliche Erklärung zu geben, wie Arbeit definiert werden soll, was also mit Arbeit eigentlich genau gemeint ist.
Und hier kommt die mündliche Tora ins Spiel. Sie liefert die Erklärungen, Interpretationen und Anwendungshilfen, um den Sprung von der Theorie in die Praxis zu vollführen. Samson Raphael Hirsch, der namhafte Rabbiner, der im 19. Jahrhundert in Frankfurt praktizierte, verglich die schriftliche Tora einst mit Notizen, die sich ein aufmerksamer Student in einer Vorlesung macht. Diese rudimentären Aufzeichnungen können zwar als Gedächtnisstütze dienen, doch geben sie bei Weitem nicht all das wieder, was eine gute Vorlesung und die darin vermittelten Inhalte ausmacht. Das geschriebene Wort kann niemals all die Facetten und all die Perspektiven beinhalten, die das gesprochene, diskutierte, ausgelegte Wort zum Vorschein bringt.
Und eben das ist auch der Grund, weshalb es eine mündliche Tradition bleiben sollte, die von Lehrer zu Schüler weitergegeben wurde. Sie sollte und musste diskutiert, ausgelegt und interpretiert werden. Nur so konnte sie ihren Geist in den jüdischen Lehrhäusern entfalten und ein zentraler Bestandteil jüdischer Beschäftigung werden.
Leidenschaft Und obwohl sie der Not gehorchend und aus Angst, des immensen Wissensschatzes durch Krieg, Zerstörung und Vertreibung verlustig zu gehen, schließlich doch in Form des Talmud niedergeschrieben wurde, hörte die leidenschaftliche Beschäftigung mit dieser Lehre bis heute nie auf.
Die mündliche Tora ist also das Instrument, durch das der fixierte, unbeweglich erscheinende Text lebendig wird. Sie löst scheinbare Widersprüche auf, glättet augenscheinliche Ungerechtigkeiten und lässt die Tora zu einem lebendigen Organismus werden, der sich stets verändert und entwickelt, der wächst, ohne dabei seinen Wesenskern zu zerstören.
So ist jüdisches Leben in all seinen Ausformungen, all seinen Variationen und all seinen Erscheinungsformen durch die mündliche Lehre, durch die überlieferte Tradition, durch das gelebte Wort geprägt und wäre ohne diese überhaupt nicht vorstellbar. Und so, wie man von einem Eisberg oft nur die Spitze sieht, während sich der weit größere Teil unter Wasser befindet, ist die schriftliche Tora nur ein Bruchteil dessen, was die jüdische Lehre tatsächlich ausmacht. Wenn auch ein wesentlicher Bruchteil!
Ob sich die Kritiker von diesen Ausführungen überzeugen lassen, ist eher zu bezweifeln, da schon ein altes jüdisches Sprichwort weiß, dass mit der Wahrheit noch keiner die Welt erobert hat. Aber einen Versuch ist es allemal wert, oder?
Der Autor ist Direktor des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen.