Die durch den Neoliberalismus inspirierte Wirtschaftspolitik der vergangenen 30 Jahre hat zu einer moralischen Verunsicherung geführt, damit aber auch zu einem neuen Interesse an Religion. Seit der jüngsten Finanzkrise fragt man wieder verstärkt nach dem Zusammenhang von Wirtschaft und Ethik. Angesichts des Zerplatzens von Blasen, die in der Annahme entstanden waren, Banken und Börsen könnten als abgelöster Kosmos eine unendliche Wertvermehrung erzeugen, die nahezu von allein immer größeren Wohlstand für die Bevölkerungen westlicher Staaten ermöglicht, kommen biblische Vergleiche mit Baals- und anderen Götzenkulten in den Sinn. Viele rufen nach schärferen Regeln für die Banken.
Hinsichtlich der Kriterien für solche Regeln stellen manche die Frage, ob religiöse Traditionen ein geeignetes Potenzial enthalten, das nicht nur das entstandene geistig-moralische Vakuum füllt, sondern hilft, die Krise in wirtschaftlicher Hinsicht effektiv zu bewältigen. Wir betrachten im Folgenden das verschüttete wirtschaftsethische Potenzial der jüdischen Tradition und beziehen es auf die 2008 begonnene Krise der Finanzmärkte.
Die jüdische Tradition basiert auf einem Begriff von Freiheit, der die Gemeinschaft im Ganzen meint, dabei aber die Autonomie des Einzelnen anerkennt, was durchaus auch dessen wirtschaftliche Aktivität einschließt. Diese Freiheit ist an Gott und die Schöpfung gebunden, was wiederum ein »Regelwerk« erfordert, weshalb die jüdische Tradition zu großen Teilen aus »Gesetzen« besteht. Sie beruft sich dabei auf zwei große Quellen: die Bibel und das rabbinische Schrifttum, vor allem den Talmud. Dieser wurde im 6. Jahrhundert abgeschlossen und äußert sich unter anderem in drei großen Traktaten – den Bawot – zu den Gesetzen der Ökonomie.
Die religiöse Wirtschaftstheorie, die die Rabbinen in diesen Traktaten entwickelten, verdient einen ebenbürtigen Rang neben anderen Wirtschaftstheorien seit der Antike. Sie ist jedoch durch die christliche Kulturdominanz und die Judenverfolgungen aus dem allgemeinen Bewusstsein verdrängt worden.
Das Besondere der rabbinischen Wirtschaftstheorie ist ihre positive Einstellung zu wirtschaftlicher Produktivität, Handel, Gewinnstreben und nicht zuletzt zum Geld. Ein Dualismus zwischen Materie und Geist, der sich in christlichen Theologien über »Sünde« und »Erlösung« spiegelt, ist dem rabbinischen Judentum fremd. Gleichwohl stellen die Rabbinen Regeln auf, durch welche die Ökonomie zu einem Teil der »Schöpfung« werden soll.
Zinsen Die jüdische Tradition wird zumeist mit dem Zinsverbot assoziiert. Damit fällt sie auch schon aus den Erwägungen moderner Wirtschaftstheorien heraus. Denn keine Realwirtschaft ist heute ohne eine sie ermöglichende Finanzwirtschaft, das heißt ohne ein Kredit- und Zinswesen, zu denken. Dem in der Bibel aufgestellten Zinsverbot steht allerdings eine lange Geschichte jüdischer Finanztätigkeit gegenüber.
Diese wird meist apologetisch damit erklärt, dass den Juden im Mittelalter andere Wirtschaftszweige verboten waren und ihnen deshalb zum Überleben allein das Geldgeschäft blieb. Übersehen wird dabei, dass die jüdische Tradition selbst, vor allem im Talmud, der materiellen Wirklichkeit, der Finanzierung von Wirtschaftzweigen, Innovationen, aber auch sozialen Projekten und Bildung nicht ablehnend gegenüber eingestellt war.
Drei Mal formuliert die Tora das Zinsverbot – jedes Mal mit einer Relativierung. Das erste Mal im Buch Exodus: »Wenn du Geld leihest meinem Volke, dem Armen bei dir, sei ihm nicht, wie ein Schuldherr, leget ihm nicht Zinsen auf« (2. Buch Moses 22,24). Die Relativierung liegt hier in den Worten »meinem Volke, dem Armen«. Eine Auslegung des Tora-Kommentars von Gunther Plaut erlaubt den Schluss, dass das Zinsverbot allein gegenüber Armen gelte, damit diese durch Hilfskredite wieder in die wirtschaftliche Selbstständigkeit zurückkehren können.
Wucher Das zweite Mal führt die Tora das Zinsverbot im Buch Leviticus an: »Und so ihr verkaufet eine Ware deinem Nächsten oder kaufet von der Hand deines Nächsten, so übervorteilt einander nicht« (3. Buch Moses 25,14). Es folgen einige konkretisierende Bestimmungen, darunter: »Dein Geld gib ihm nicht um Zins, und um Wucher gib ihm nicht deine Speise« (3. Buch Moses 25, 37). Diese Formulierung könnte also nicht Zins schlechthin, sondern lediglich die »Übervorteilung« meinen, wonach Zins erst verboten sei, wenn er in »Wucher« umschlägt. Der Talmud führt detaillierte Kriterien an, ab wann von einer »Übervorteilung« gesprochen werden kann.
Das dritte Mal nennt die Tora das Zinsverbot im Buch Deuteronomium. Dort geht es nicht um das Nehmen von Zinsen, sondern um das Geben. »Du darfst deinem Bruder keine Zinsen geben, sei es Zins an Geld oder Zins an Speise, keinen Zins, was nur als Zins zu begreifen wäre. Dem Fremden darfst du Zinsen geben, deinem Bruder darfst du keine Zinsen geben, damit Gott, dein Gott, dich segne in allem, woran du deine Hand legst, in dem Lande, wohin du kommst, es in Besitz zu nehmen« (5. Buch Moses 23,20-21).
Diese Passage sagt mehr über die Beschaffenheit der »heiligen Gemeinde« Israel aus, als über den Zins selbst. Es geht um die moralische Integrität des einzelnen Israeliten in dieser Gemeinschaft. Die Rabbinen im Talmud sannen vor allem über die moralischen Folgen, die durch das Geben von Zinsen entstehen könnten.
Das Geben geriet dabei in die Nähe von »Bestechung«. In diesem Zusammenhang sprachen die Rabbinen auch vom Vortäuschen emotional nicht gedeckter Beziehungen. Durch das Geben von offenen oder verdeckten Zinsen entstehe ein bestimmter Zwang, der einer Wahrhaftigkeit, die auch in der Wirtschaft notwendig sei, entgegenwirke.
Zugleich erkennt die Passage an, dass in der ökonomischen Realität, die auch damals nicht allein aus »Brüdern« bestand, Zinsen gezahlt wurden. Die Erlaubnis, »Fremden« Zinsen zu geben, kann sich auf Verhältnisse beziehen, in denen ein Maß an Anonymität herrschte, welches verhinderte, dass beim Geben von Zinsen zusätzliche emotionale, moralische Abhängigkeiten entstanden.
Gesellschaft Liest man die drei Stellen zum Zinsverbot in der Tora im Lichte der rabbinischen Auseinandersetzungen im Talmud, fällt vor allem eines auf: Das Verbot konnte schon deshalb kein absolutes, sondern nur ein freiwilliges sein, weil für seine Übertretung keine Strafe vorgesehen war. Der Talmud unterstreicht lediglich die Mitverantwortung aller, die an dem Vorgang der Zinsnahme mitwirkten: »Der Gläubiger, der Schuldner, der Bürge und die Zeugen.
Die Weisen sagen: Auch der Schreiber« (Bawa Mezia 4,11). Damit postulierten die Rabbinen weniger ein absolutes Zinsverbot, als eine absolute Mitverantwortung. Auf die heutige Zeit übersetzt hieße das: Eine Gesellschaft, die auf Zinsen und Renditen fixiert ist, kann – im Falle einer Krise – nicht nur den Banken und Managern die Schuld geben. Alle, die teilhatten, sind mitverantwortlich. Niemand kann sich herausreden.
Statt einer Strafe für die Übertretung des Zinsverbotes nennt die Tora eine Belohnung für sein Einhalten – »damit Gott, dein Gott, dich segne in allem, woran du deine Hand legst« (5. Buch Moses 23,21). Für das Einhalten gibt es einen Segen! Dieser weist die Richtung, um die es damals ging: Erfolg und Wohlstand (=Segen). Genau das, worum es in der Wirtschaft auch heute geht.
Was aber bezwecken die Formulierungen des Zinsverbotes, wenn es sich um kein absolutes Verbot handelt? Hier greift die religiöse Dimension. Es geht um die Bildung von »Gemeinschaft« – einer »heiligen Gemeinschaft« gegenseitiger Solidarität und Wahrhaftigkeit, die das »Volk Israel« gerade auch durch seine wirtschaftliche Tätigkeit verwirklicht. Genau daran konkretisierte und relativierte sich zugleich das Zinsverbot.
Mehrwert Im selben Talmudtraktat führten die Rabbinen noch eine andere Debatte. Sie steht am Anfang aller ernst zu nehmenden Auseinandersetzung mit dem Geld und beweist, mit welchem Sachverstand die Rabbinen an das Thema Wirtschaft herangingen. Es geht um das eherne Gesetz: Geld kostet Geld. Wer Geld braucht, um ein Projekt oder ein Geschäft zu finanzieren, muss für dieses Geld Geld bezahlen.
Die Rabbinen betonten dabei den Doppelaspekt des Geldes: Geld ist sowohl Tauschmittel als auch Ware von einer eigenen Qualität mit einem eigenen Mehrwert. Davon ausgehend stellten die Rabbinen eine Hierarchie an Wertigkeiten auf. Das Mehrwertige könne nicht das Minderwertige »erwerben«. Mit dieser Feststellung verbindet sich implizit eine grundlegende Unterscheidung. Das »Mehr- wertige« enthält zwei Werte – einen Tauschwert, wie auch darüber hinaus noch einen potenziellen Mehrwert. Es ist der potenzielle Mehrwert, der es verbietet, als Tauschwert für das Minderwertige degradiert zu werden.
Der potenzielle »Mehrwert« einer Ware wird im Talmud mit dem Wort Schewach bezeichnet. Man kennt das Wort als die »Lobpreisung« oder »Verherrlichung« Gottes, die man durch die Verwirklichung der göttlichen Gebote ausdrückt. Offenbar enthält auch die wirtschaftliche Aktivität das Pozential zum Schewach – zur »Verherrlichung Gottes«, die zugleich eine »Vermehrung des Wertes« bedeutet. Der »Mehrwert« im Sinne von Schewach ist das verwirklichte Potenzial einer Sache oder einer Handlung als Teil des Schöpfungsprozesses.
Freiheit Das heißt, dass Gott in den Details der Schöpfung Potenziale zum Mehrwert angelegt hat, die allerdings erst vom Menschen verwirklicht werden. Die Vermehrung des Wertes, die letztlich Wachstum bedeutet, ist somit von Gott her erwünscht. Schewach zu bilden, setzt die Freiheit des Menschen voraus, kreativ mit der Schöpfung umgehen zu können, sie zu benutzen, zu behandeln und auch umzuwandeln. Der daraus entstehende Mehrwert geht jedoch nicht allein auf den Menschen zurück.
In ihm drückt sich immer auch die kreativ angewandte Spannung zwischen Gott und seiner Schöpfung aus. In der jüdischen Tradition ist es darum entscheidend, den Schewach auf Gott zurückzuführen. Geschieht dies nicht, verselbständigt sich der Mehrwert zu einer von Gott abgelösten Dynamik und führt zum Götzendienst (in der Bibel) respektive in die Blase (bei Anwendung der neoliberalen Ideologie).
Der Neoliberalismus hat als Glaube an die absolute Freiheit des Marktes seine eigenen religiösen Züge: Der Staat und seine Bürokraten verstünden zu wenig von Wirtschaft und verfälschten mit ihren Vorschriften nur den Markt. Alleine die Kräfte des Marktes würden zu mehr Wohlstand führen. Das schlug sich in einer Politik der »Deregulierung« nieder, einer Beseitigung oder zumindest Ausdünnung von Gesetzen und Vorschriften, die das Handeln von Akteuren des Marktes regeln.
Bilanzen Im Bereich der Banken führte die Politik der Deregulierung zu drastischen Lockerungen des Bilanzrechtes. In den Gesetzen des Bilanzrechts spiegelt sich immer auch die gebotene Wahrhaftigkeit gegenüber Aktionären und Investoren. Bilanzen teilen rechtsverbindlich mit, in welcher Finanzverfassung sich eine Firma oder Bank befindet, und welche Risiken die Zukunft möglicherweise belasten. Je stärker die finanzielle Lage in der Bilanz erscheint, desto höher der Preis für die Aktien des Unternehmens oder desto höher die Nachfrage nach den Anleihen oder Zertifikaten als »sichere Papiere«.
Die Politik der Deregulierung ermöglichte jedoch eine Verfälschung der Bilanzen. Kreditrisiken durften nunmehr in Tochtergesellschaften in Ländern mit laxen Bilanzregeln oder einer milden Bankenaufsicht ausgelagert oder besser: versteckt werden. Zugleich schuf die Politik der Deregulierung Möglichkeiten, neue Finanzprodukte zu erfinden. Dabei wurde völlig losgelöst von der Bonität einzelner Kredite die Beschaffenheit des Papiers durch extrem komplexe Bedingungen regelrecht vor dem Käufer verschleiert. Kennzeichnend für diese Finanzprodukte war die Vermischung von Mehrwertigem mit Minderwertigem. Es ging nicht um die Verbesserung, sondern um eine Verschleierung von Minderwertigem.
Im Talmud heißt es: »Man darf nicht schlechte Früchte unter gute Früchte mischen, selbst nicht neue unter neue, geschweige denn neue unter alte« (Bawa Mezia, 4,11). Genau diese Vermischung von Minder- und Mehrwertigem hat zur Finanzkrise von 2008 geführt. Sie war und ist im Wesentlichen eine Krise der Transparenz.
Möglich wurde sie durch eine vom Neoliberalismus inspirierte Politik der Deregulierung. Die Freiheit des Marktes schuf dabei durch die systematische Minderung des Mehrwertes Wertblasen, die – weil sie irgendwann zerplatzen – die Implosion eben dieses Marktes herbeiführten. Eine solche Wertminderung wäre nach dem rabbinischen Recht von vornherein verboten gewesen.
Aktualität Gewiss kann eine religiöse Tradition wie die jüdische nur eine Facette in der wirtschaftsethischen Auseinandersetzung der Gegenwart bieten. Gleichwohl gehört die talmudische Auseinandersetzung mit den Gesetzen der Ökonomie zur christlich-jüdischen Tradition. In ihr erklärt sich auch, wer »wir« als abendländische Europäer in wirtschaftlicher Hinsicht sind.
Die einstigen Gedanken zum religiösen »Mehrwert« durch wirtschaftliche Tätigkeit und dem Primat einer Gemeinschaft der Solidarität sollten als Angebote begriffen werden. Sie mögen helfen, Lähmungen aufzubrechen, die durch das zerrissene Band zwischen religiösem Denken und ökonomischer Realität entstanden sind.
Elisa Klapheck ist Rabbinerin des Egalitären Minjans in Frankfurt/M.
Abraham de Wolf ist Rechtsanwalt in der Software-Industrie.