Eines der Fundamente der jüdischen Religion ist der feste Glaube daran, dass jede Situation und jeder Moment unseres Lebens für spirituelles Wachstum genutzt werden kann. Der Mensch ist nicht dazu bestimmt, auf der Stelle zu treten, sondern er soll ständig über sich hinauswachsen und aus jeder Gelegenheit das Beste machen.
Unsere Parascha beginnt mit dem Bericht von Saras Tod: »Und das Leben Saras war einhundert Jahre und zwanzig Jahre und sieben Jahre. Dies sind die Jahre des Lebens von Sara. Und Sara starb in Kiriat Arba« (1. Buch Mose 23, 1–2).
Lebensweg Raschi (1040–1105) kommentiert die Worte »die Jahre des Lebens von Sara« mit folgendem Satz: »Alle waren gleich gut.« Dies scheint zunächst einmal dem zu widersprechen, was wir über Saras Lebensgeschichte wissen. War sie doch über einen Zeitraum von vielen Jahren unfruchtbar und gebar erst im hohen Alter den Sohn, auf den sie so lange gehofft hatte. Dies ist nur eines von vielen Beispielen für die Höhen und Tiefen, die Sara auf ihrem Lebensweg erfahren hat.
Rabbi Mosche Sofer, der Chatam Sofer (1762–1839), erklärt, dass Raschi in seinem Kommentar niemals die Absicht hatte, zu sagen, dass in Saras Leben von Jahr zu Jahr alles gleich gut verlief. Wenn immer alles gleich gut verlaufen wäre, dann wäre jedes Jahr mit derselben Sicherheit und demselben Maß an Sorglosigkeit dahingezogen. Doch das hätte zweifelsohne zu einer spirituellen Stagnation geführt, und von »gut« könnte dann keine Rede sein.
Die tatsächliche Intention Raschis, so sagt der Chatam Sofer, war eine andere. Raschi meint, jedes Jahr im Leben von Sara sei gleich gut gewesen, denn sie nutzte jedes Jahr – unabhängig davon, was es für Hürden und Schwierigkeiten mit sich brachte – mit der immer gleichen Liebe und Hingabe an das Gute. Jeder Augenblick in Saras Leben war eine Chance, weiter zu wachsen und zu einer besseren und stärkeren Person zu werden.
In seinem Kommentar zu 1. Buch Mose 12,5 lehrt uns Raschi, dass Awraham und Sara während ihres Aufenthalts in Charan Menschen dazu bewegten, an den einen G’tt zu glauben. Awraham und Sara nahmen jede Begegnung mit einer anderen Person als Gelegenheit wahr, den Glauben an den einzigen G’tt und seine moralischen Vorschriften zu verbreiten.
Fortschritt Auch Rabbi Elijah ben Salomon Salman, der Gaon von Wilna (1720–1797), betont in seinen Werken, dass es nötig ist, spirituell voranzukommen. Er schreibt: »Der Mensch wird deswegen ›derjenige, der sich bewegt‹ genannt, weil er sich immer von einer geistigen Stufe zur nächsten bewegen soll. Falls der Mensch allerdings nicht wächst, dann wird er zweifelsohne fallen, G’tt bewahre, denn es ist unmöglich, dass eine Person auf derselben geistigen Stufe bleibt« (Kommentar zu Mischlei 15,24).
Die jüdische Philosophie betont, wie nötig diese geistige Arbeit ist. Aber sie stellt auch fest, dass die Verfeinerung des Charakters nicht von heute auf morgen zu erreichen ist. So sagte Rabbi Yechezkel Levenstein (1895–1974) im Namen von Rabbi Israel Salanter (1810–1883), dem berühmten Begründer der Mussar-Bewegung: »Es ist einfacher, den gesamten Talmud auswendig zu lernen, als auch nur eine einzige negative Charaktereigenschaft völlig zu annullieren.«
Kontinuität Unsere Weisen setzen daher beim persönlichen Wachstum vor allem auf Kontinuität und Willensstärke in enger Verbindung mit Vorsicht und Bedacht.
Rabbi Schlomo Wolbe (1914–2005) beschreibt dies folgendermaßen: »Es ist normal für eine Person, die die Welt verbessern möchte, nach einem riesigen und komplizierten Plan zu suchen: eine Organisation für Weltfrieden oder weltweite Gerechtigkeit zum Beispiel. Auch die Person, die an sich arbeiten möchte, sehnt sich danach, mit großen Aktionen der Frömmigkeit zu überzeugen. Denn was kann eine kleine Tat schon ausrichten? Tatsächlich ist aber das genaue Gegenteil richtig: Die kleinen Taten machen den großen Unterschied!«
Dann bringt Rav Wolbe ein Beispiel aus der Medizin: »Wenn ein Medikament eine größere Menge des benötigten Wirkstoffs enthielte, dann würde es nicht zum Heilungsprozess des Patienten beitragen, sondern schaden. Im Ernstfall könnte der Patient sogar sterben. Die erste Regel in der Arbeit an sich selbst ist daher: Es darf niemals zur Last werden.« (Alei Schur 189)
Rav Wolbe betont die Wichtigkeit der kleinen Schritte im geistigen Wachstum, die den Menschen vor einer schädlichen Überlastung schützen sollen. Dies steht allerdings keineswegs im Widerspruch zur Forderung nach kontinuierlichem Wachstum, wie es der Gaon von Wilna beschreibt und wie es uns Sara vorgelebt hat.
Saras Erbe lebt in jedem einzelnen ihrer Nachkommen weiter. Und unabhängig davon, in welchem Bereich eine Person aktiv ist, wirken die Worte unserer Gelehrten motivierend und geben Ratschläge, wie man sich auf neue Stufen der geistigen Vervollkommnung begeben kann.
Ganz gleich, welche Höhen und Tiefen ein neuer Tag mit sich bringt – wir sollten stets bemüht sein, in jeder Situation das Potenzial für geistiges Wachstum maximal auszuschöpfen.
Der Autor studiert am Rabbinerseminar zu Berlin.
Inhalt
Der Wochenabschnitt Chaje Sara beginnt mit Saras Tod und dem Kauf der Grabstätte »Mearat Hamachpela« durch Awraham. Dieser Kauf wird sehr ausführlich geschildert. Später beauftragt Awraham den Knecht Elieser, für seinen Sohn eine passende Frau zu suchen. Er findet in Riwka die richtige Partnerin für Jizchak. Auch Awraham bleibt nicht allein: Er heiratet eine Frau namens Ketura. Schließlich stirbt er und wird in der Höhle begraben, in der auch Sara beigesetzt ist.
1. Buch Mose 23,1 – 25,18