Wer als Jude seinem nichtjüdischen Gegenüber die ei-
gene Religionszugehörigkeit offenbart, hört häufig ein erstauntes: »Ach, tatsächlich?«, oftmals gefolgt von der Frage, ob man denn auch ein gläubiger Jude sei.
Und während das erste Erstaunen meist daher rührt, dass das durch Zeitung, Fernsehen und die eigenen Vorurteile verzerrte Bild eines in Westeuropa lebenden Juden recht wenig mit der Realität gemein hat, beweist die anschließende Frage, so simpel sie auch zu sein scheint, eine grundlegende Unkenntnis über die Unterschiede von Judentum und Christentum.
Folgt auf diese Frage von jüdischer Seite nun der Versuch, seinen eigenen Glauben qualitativ oder anhand einer Art religiöser Skala zu messen und daraus seine eigene Frömmigkeit abzuleiten, so ist dies nicht selten ein Impuls, der demselben Missverständnis und der Sozialisation in einem christlich geprägten Umfeld geschuldet ist.
Himmelreich Denn Christentum und Judentum unterscheiden sich gerade in der Frage des Glaubens und dessen unbedingter Notwendigkeit für das Selbstverständnis der jeweiligen Religion ganz erheblich voneinander: Für das Christentum ist der Glaube das grundlegende Element. Es ist der Glaube an Jesus, der die von Geburt an unvollkommenen und mit der Erbsünde belasteten Menschen von ihren Sünden befreit und ihnen den Weg in G’ttes Himmelreich öffnet. Wer glaubt, dem steht der Weg zu G’ttes Gegenwart offen.
Dem Judentum dagegen ist eine solche Vorstellung vollkommen fremd. Neben der Ablehnung der Ideen der Dreifaltigkeit und von Jesus als G’ttes Sohn, die mit dem monotheistischen Prinzip auch gar nicht in Einklang zu bringen sind, betrachtet das Judentum den Gedanken einer Erbsünde als abwegig.
Der frühere Offenbacher Rabbiner Max Dienemann schrieb dazu im Jahr 1919 in seinem Buch über die Unterschiede von Judentum und Christentum: »Das Judentum lehrt, dass die Seele des Menschen von Geburt an rein und sündlos ist, dass der Mensch von Natur aus mit der Fähigkeit begabt ist, das Gute zu tun und sittlich zu handeln aus eigener Kraft. Das Christentum lehrt, dass der Mensch von Geburt an mit Sünde behaftet ist, dass seine eigene Kraft nicht ausreicht, das Gute zu tun, dass Sünde und Schuld die herrschende Macht im menschlichen Leben ist.«
Tora Entscheidend ist allerdings ein anderer Aspekt, der in diesen Gedanken anklingt: Das Judentum nimmt vorrangig die Tat als solche in den Fokus und nicht den Glauben. G’tt hat dem jüdischen Volk am Berg Sinai sein Gesetz offenbart – die Tora, die 613 Mizwot enthält. Mit der Annahme der Tora und der Besiegelung des g’ttlichen Bundes hat sich das jüdische Volk zur Einhaltung dieser Vorschriften verpflichtet. Sie sind es, die das Gesicht des Judentums prägen. Sie sind der Rahmen, in dem sich fromme Juden bewegen, und sie sind es, die nahezu jeden Lebensbereich bis ins letzte Detail regeln.
Nun ist es keineswegs so, dass alle Strömungen im Judentum diese Mizwot auch tatsächlich als bindend ansehen. Die Orthodoxie betrachtet die am Berg Sinai empfangene Tora samt der Mizwot als unmittelbar von G’tt offenbart und betont den g’ttlichen Ursprung der gesamten jüdischen Lehre.
Zwar sind seit der Übergabe der Tora unsere Weisen damit beschäftigt, die Gesetze zu interpretieren, auszulegen und auch gelegentlich moderate Anpassungen vorzunehmen, die die Fortentwicklung von Umwelt und Gesellschaft nicht völlig aus dem Blick lassen. Dabei dürfen die Mizwot jedoch weder in ihrer Zahl noch in ihrem Kerngehalt verändert werden.
Das liberale Judentum hingegen meint, dass die Tora zwar g’ttlich inspiriert, letztlich jedoch von Menschenhand zusammengestellt und niedergeschrieben worden sei. Die Ge- und Verbote seien damit nicht ausschließlich g’ttlichen Ursprungs und deshalb auch nicht unveränderbar. Weder in ihrer Gesamtheit noch in ihrem Sinngehalt.
So findet im liberalen Judentum – zumindest im Idealfall – eine andauernde Auseinandersetzung mit der Frage statt, welche Vorschriften ihrem vermeintlichen Sinn nach noch Gültigkeit haben, welche Gesetze einen fortdauernden Wert für den Menschen haben und welche Gebote im Laufe von Tausenden von Jahren noch zeitgemäß erscheinen. In letzter Konsequenz ist es also eine individuelle Auseinandersetzung mit den Mizwot.
Einig sind sich die unterschiedlichen Richtungen allerdings in ihrem Grundverständnis über die Notwendigkeit der Einhaltung von Geboten und dem Verhältnis von Tat und Glaube.
Handlungen Im Judentum hat derjenige einen Anteil an der kommenden Welt, der die Ge- und Verbote hält – derjenige, der gute Taten vollbringt. Der entsprechend dem jüdischen Moralkodex lebt und die mitmenschliche Ethik praktiziert. Der sich durch seine Handlungen G’tt nähert und ein positives Beispiel für alle Völker setzt. Denn das ist es, weswegen das jüdische Volk auf Erden weilt. Es soll ein Vorbild für alle Menschen sein, ein Licht unter den Nationen.
Nun ist ein Jude so unvollkommen, wie jeder andere Mensch auch. Er hat die gleichen Laster und trägt wie jeder andere Mensch die Anlage in sich, Gutes oder Schlechtes zu tun. Und er besitzt – wie alle anderen – die größte aller Gaben: einen freien Willen, der die Wahl der guten Tat und die Befolgung der Gebote so wertvoll macht.
Worauf er auf seinem Weg allerdings jederzeit zugreifen kann, ist die Tora, die ihm ein g’ttliches Koordinatensystem und einen Pfad durch die Unwägbarkeiten des Lebens bietet. Ein ethisch-moralisches Gerüst, an dem er sich orientieren kann. Eine Gesetzessammlung und einen Verhaltenskodex, die in jeder nur denkbaren Situation einen Weg weisen und Halt bieten.
Gebote Heißt das denn nun, dass das Judentum auch unabhängig vom Glauben existieren kann? Genügt die ausschließliche Einhaltung von Verhaltensnormen und Geboten, um den g’ttlichen Willen zu erfüllen? Natürlich nicht! Denn schon das erste der Zehn Gebote macht deutlich, dass der Glaube eine unabdingbare Voraussetzung für das Judentum darstellt: »Ich bin der Ewige, dein G’tt, der Dich aus dem Sklavenhaus Ägypten herausgeführt hat.«
Rabbi Ibn Ezra, einer der bedeutendsten Tora-Kommentatoren, wies vor gut 900 Jahren mit Blick auf dieses Gebot darauf hin, dass ein Gebot ohne Gebieter schon gar nicht denkbar ist. Der Glaube an den einen und einzigen G’tt ist die Gewähr für die Einhaltung der Mizwot. Er ist nicht die alleinige Botschaft, sondern das Mittel zum Zweck. Das Ziel hingegen ist, ein Leben in Heiligkeit zu führen, als Vorbild für alle Menschen, für das der Glaube eine notwendige Vorbedingung ist.
Nach Rabbiner Dienemann ist der Glaube auch im Judentum die selbstverständliche Voraussetzung der Frömmigkeit, aber nie selbst Frömmigkeit. Und Rabbiner Ibn Ezra macht mit Blick auf die Zehn Gebote darauf aufmerksam, dass, wenn man von der Zahl 10 die 1 wegnimmt, nur die 0 übrig bleibt. Ohne das Erste Gebot verlieren die übrigen Gebote ihre Grundlage. Oder mit anderen Worten: Der Glaube selbst ist nicht alles, aber ohne Glauben ist alles nichts.
Und wie lautet nun die Antwort auf die Frage, ob man denn ein gläubiger Jude sei? Die muss jeder selbst finden. Aber eines ist sicher: So einfach es für einen Christen ist, eine solche Frage zu beantworten, so schwierig ist es für einen Juden. Aber wer hat schon gesagt, dass es einfach ist, ein Jude zu sein?
Der Autor ist Direktor des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen.