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Lech Lecha

Geh, es ist zu deinem Besten!

Foto: Getty Images

Zu Beginn des Wochenabschnitts Lech Lecha sagt Gʼtt zu Awraham (der zu diesem Zeitpunkt noch Awram heißt): »Geh fort aus deinem Land, weg von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde!« (1. Buch Mose 12,1).

Der Ausdruck »Lech Lecha« ist einzigartig. Die beiden Wörter »Lech« und »Lecha« werden identisch geschrieben, nur die Vokalisierung lässt sie unterschiedlich gelesen werden und nicht als »Lech, Lech« oder als irgendeine andere Kombination von Lauten. »Lech« ist der Imperativ des Verbs »gehen«, und »Lecha« bedeutet »dir«.

Die Worte, die normalerweise als »Geh fort!« übersetzt werden, bedeuten also auch »Geh zu dir!« oder »Geh für dich!«. »Geh zu dir!« ist die Aufforderung zu einer Reise in die Tiefen der eigenen Seele.

Metapher für die Reise der Seele

Awrams Reise ins Gelobte Land kann als eine Metapher für die Reise der Seele gesehen werden. Ein Hinweis darauf lässt sich im Zahlenwert der Wörter »Lech Lecha« finden. Dieser beträgt 100 (Lech ergibt 50, und Lecha ergibt ebenfalls 50). Laut dem 1. Buch Mose 12,4 war Awram 75 Jahre alt, als Gʼtt sich ihm offenbarte. Laut dem 1. Buch Mose 25,7 wurde Awraham 175 Jahre alt. Der Zahlenwert von Gʼttes Aufforderung an Awraham, der Aufforderung »zu sich zu gehen«, ist identisch mit der Anzahl der Lebensjahre, die ihm noch blieben. Die Botschaft dahinter ist, dass die Reise zu sich selbst, die Reise der Selbsterkenntnis, ein lebenslanger Prozess ist.

Lech Lecha kann aber auch, wie bereits bemerkt, als »Geh für dich!« – im Sinne von: »Geh zu deinem eigenen Besten!« – verstanden werden. So interpretiert es der mittelalterliche Kommentator Raschi (1040–1105). »Geh zu deinem eigenen Besten, denn dort wirst du Nachkommen haben; aber hier, in diesem Land, wirst du keine Nachkommen haben.« So müssen die Worte »Lech Lecha« laut Raschi verstanden werden.

Die Interpretation von Raschi entspricht dem Talmud (Rosch Haschana 16b), denn die Weisen lernen aus diesem Vers, dass man sein Schicksal durch einen Ortswechsel verändern kann. Verschiedene Orte haben verschiedene Energien, in der Sprache der talmudischen Weisen »verwaltende Engel«. Dadurch, dass man den geografischen Ort ändert, kann man den Lauf des Schicksals verändern, da die Zeit mit ihren positiven und negativen Vorkommnissen auch durch den Ort gefiltert wird. Das Land Israel hat dabei die Besonderheit, dass es keinen eigenen Engel hat, sondern direkt von Gʼtt regiert wird. Daher kann ein Umzug nach Israel das Schicksal am intensivsten verändern.

Andere Dinge, die laut dem Talmud ebenfalls das Schicksal verändern, sind: das Gebet, Spenden, Namensänderungen und Verhaltensänderungen.

Eine weitere Besonderheit von Gʼttes Botschaft an Awram ist, dass das Land Israel nicht namentlich genannt wird, sondern es wird von »dem Land, das ich dir zeigen werde« gesprochen. Laut Raschi ist es Gʼttes Intention gewesen, Awram zusätzlich zu belohnen, da die Prüfung durch die Nichtkenntnis des Ziels noch schwieriger wird, und eine schwierigere Prüfung ist mit einer noch größeren Belohnung verbunden.

Die Geschichten der Väter sind auch ein Zeichen für die Nachkommen. Wie unsere Weisen lehren, ist ein Teil der Schwierigkeit jeder Lebensprüfung, dass wir nicht wissen, wohin der Weg geht. Wenn man im Voraus wüsste, was am Ende einer Situation passiert, wäre die Situation nicht so schwierig, aber auch der damit verbundene gʼttliche Lohn wäre nicht so groß.

Awram hört auf die Stimme Gʼttes, er folgt der Aufforderung von Lech Lecha, und direkt nach der Ankunft im Land Israel erfahren wir: »Und es kam eine Hungersnot ins Land. Da zog Awram hinab nach Ägypten, dass er sich dort als Fremdling aufhielte; denn der Hunger war groß im Land« (1. Buch Mose 12,10).

Man stelle sich die Situation bildlich vor – Gʼtt spricht und sagt: »Geh! Es ist zu deinem Besten!« Awram verkauft alles, was er besitzt, nimmt seine Familie und begibt sich auf eine schwere Reise, im vollen Vertrauen, dass Gʼtt den besten Plan hat. Nach tagelanger Reise endlich im Gelobten Land angekommen, beginnt eine brutale Hungersnot, die sich nur auf Israel und auf keines der Nachbarländer bezieht. Gʼtt schweigt und äußert sich zu der gegebenen Situation mit keinerlei Prophetie. Im Volksmund würde man diese Situation als jiddischen Masel bezeichnen.

Warum? Rabbi Nachman von Brazlaw schreibt, dass all die Schwierigkeiten, die uns auf dem Weg zu Gʼtt begegnen, metaphorisch gesprochen, ein Gefäß erschaffen, das die Heiligkeit auffangen kann. Der Weg zur Heiligkeit besteht in der Überwindung der Schwierigkeiten. Awram, der Beginn des Weges zum moralischen Monotheismus, musste viele Schwierigkeiten überwinden.

Außerdem verbrennt jede Schwierigkeit den negativen Effekt vergangener schlechter Taten, und die Überwindung von Schwierigkeiten ist mit einem ewigen Lohn in der kommenden Welt verbunden.

Die Offenbarung des Guten im Schlechten sehen

Die Offenbarung des Guten im Schlechten zu sehen, dass »Gʼtt eins ist«, sowohl in den Momenten des Lichts als auch in denen der Dunkelheit, ist das, was die Welt vervollkommnen soll. Der sogenannte jiddische Masel ist in Wahrheit nichts anderes als der Segen des Schöpfers.

Awram, der Prophet, weiß das. Er sagt nichts und hinterfragt Gʼttes Entscheidung nicht. »Es kam aber eine Hungersnot ins Land.« Und Awram, ohne sich zu beklagen, »zog hinab nach Ägypten, dass er sich dort als Fremdling aufhielte; denn der Hunger war groß im Land«.

Awram war ein Prophet, der Gʼttes Stimme vernahm. Er ging für immer ins Bewusstsein der Menschheit ein, so wie es im Vers heißt: »In dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden« (12,3).

Wie, das können wir aus seinem Verhalten angesichts der Schwierigkeiten lernen. Der Talmud lehrt: Das Toralernen wiegt alles auf. Das intensive Studium der Tora erlaubt es uns zu lernen, dass alles, was vom Schöpfer ist, zum Guten ist.

Dass wir in jeder Schwierigkeit die Möglichkeit haben, ewige Diamanten (den Lohn im Jenseits) mitzunehmen, durch die würdevolle Annahme jeder Situation, die auf uns zukommt.

Der Autor ist Religionslehrer und Sozialarbeiter der Jüdischen Gemeinde Osnabrück.

inhalt
Der Wochenabschnitt Lech Lecha erzählt, wie Awram und Sarai ihre Heimatstadt Charan verlassen und nach Kena’an ziehen. Awrams ägyptische Magd Hagar schenkt ihm einen Sohn, Jischmael. Der Ewige schließt mit Awram einen Bund und gibt ihm einen neuen Namen: Awraham. Als Zeichen für den Bund soll von nun an jedes männliche Neugeborene am achten Lebenstag beschnitten werden.
1. Buch Mose 12,1 – 17,27

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