In den letzten Wochen haben sich die meisten meiner wichtigen Termine in eine unpräzise Zeitzone verschoben, die von allen gern nebulös als »nach den Chagim« bezeichnet wird. Diese kollektive Prokrastination ist nicht göttlich inspiriert – schließlich ist der Monat Tischri ohnehin einfach komplett verplant: erst Rosch Haschana, dann Jom Kippur und Sukkot. Und schließlich ist da noch das Fasten von Gedalja, das deshalb häufig einfach völlig unbeachtet an uns vorbeizieht.
Das Fasten von Gedalja findet am dritten Tischri statt, unmittelbar nach den beiden Tagen von Rosch Haschana. Der Übergang von den Neujahrsfeierlichkeiten hin zu einem Trauertag kann recht abrupt erscheinen – oder als willkommene Mäßigung nach einem opulenten Essensmarathon. Was ist die Geschichte dieses Fastens, und was könnte es für uns in diesem Jahr bedeuten?
Unser Fasten soll an die Ermordung von Gedalja ben Achikam erinnern, der nach der Zerstörung des Tempels von dem berüchtigten Nebukadnezar zum Statthalter Israels ernannt worden war. Auch hier hilft ein Blick zurück auf die Ereignisse: Gedalja selbst regierte über eine verarmte Provinz, die von den Babyloniern gnadenlos ausgeplündert worden war. Viele Juden hatte man getötet oder deportiert. Der jüdische Bevölkerungsanteil vor Ort war stark geschrumpft. Gedalja hatte also nur noch wenig Macht. Wer konnte in einer solchen Situation seinen Tod wollen?
Wir haben mehrere Tage, um die Facetten unserer Trauer auszudrücken.
Zur Erinnerung: Der Tempel war aufgrund von »Sinat chinam« – grundlosem Hass – zerstört worden, so ist im Talmud zu lesen. In diesem Kontext ist es erwähnenswert, dass das rabbinische Geschichtsverständnis einen kritischen Blick auf unsere eigenen Taten wirft. Wir hätten ja den Eindruck gewinnen können, dass der Tempel durch die imperiale Expansionspolitik eines antiken Reiches, in diesem Fall die Babylonier, zerstört wurde. Doch das wäre eine nur sehr oberflächliche Lesart der Geschichte, betonen die Rabbiner.
Denn letztendlich war es unsere eigene Unfähigkeit zur Einigkeit, die unsere Schwäche offenbaren sollte und dazu führte. Die Wahrheit ist also deutlich komplexer – auch wenn es die Babylonier waren, die den Konflikt ausgelöst hatten.
Aus dieser Überlieferung heraus lässt sich zweifellos eine Erkenntnis ableiten, und zwar, dass von uns verlangt wird, bei der Betrachtung unserer Vergangenheit eine Gewissensprüfung vorzunehmen. »Grundloser Hass« habe damals zu unserem Untergang beigetragen, sagen die Rabbiner stets. Und doch scheinen wir wenig aus dieser Geschichte gelernt zu haben. Die Ermordung Gedaljas durch einen seiner Verwandten, und zwar einen Juden namens Ismael ben Natanja, Sohn von Elischema und ein Nachkomme der Könige, der zu jener Zeit im Land der Ammoniter lebte, nimmt so andere düstere Episoden der jüdischen Geschichte vorweg, beispielsweise die Ermordung von Yitzhak Rabin.
Die wenige Macht, die Gedalja hatte, war ihm von den Eroberern verliehen worden. In den Augen von Fanatikern war Gedalja deshalb nichts anderes als ein Verräter, der die Beziehungen zu den Besatzern »normalisierte«. Wenn aber Gedalja wirklich so unbedeutend gewesen sein soll, weshalb ist sein Tod dann ein derart wichtiges Ereignis? Wir gedenken des Ablebens einer x-beliebigen Person ja nicht mit einem Fastentag – worum geht es hier also genau?
Gedenken an die Zerstörung des Tempels
Um das besser zu verstehen, sollten wir Zom Gedalja in den größeren Kontext des Gedenkens an die Zerstörung des Tempels im jüdischen Kalender einordnen: Am 10. Tewet erinnern wir an den Beginn der Belagerung von Jerusalem. Am 17. Tamus fasten wir wegen des Kollapses seiner Stadtmauern, und am 9. Aw betrauern wir die Zerstörung des Tempels. Und im Tischri schließlich gedenken wir der Ermordung Gedaljas. In der Liste der Ereignisse sticht Gedalja als einziges Gesicht in der Menge hervor. Wir reduzieren die Geschichte eben nicht auf die Ereignisse, sondern erinnern und betrauern auch ganz real existierende Personen.
Der Bogen, der sich entlang dieser vier Fastentage spannt, transportiert aber auch eine wichtige Lehre unserer Weisen. Wir hätten auch nur einmal im Jahr, am Tag der Zerstörung des Tempels, trauern können. Aber eine solche Praxis wäre eine äußerst vereinfachende und eindimensionale Angelegenheit, wodurch die Vergangenheit auf eine Abfolge von Ereignissen reduziert wird und die Entwicklungen, die zu ihnen führten, schlichtweg ignoriert würden.
Durch die Verlangsamung des Gedenkens in vier Fasttage werden wir dazu eingeladen, sukzessiv die Unmittelbarkeit der Zerstörung nachzuempfinden. Ferner erhalten wir so auch einen realitätsnäheren Rahmen für unsere Trauer. Zu beklagen gibt es reichlich, und wir haben mehrere Tage Zeit, die verschiedenen Facetten unserer Trauer zum Ausdruck zu bringen.
Jenes stufenweise Voranschreiten bringt eine Umkehrbarkeit ins Spiel: So findet sich in jeder Phase der Ereignisse die Option, den Lauf der Geschichte abzuwenden. Oder anders formuliert: Nichts ist vorbei, bis es vorbei ist.
Unsere Weisen pflegen gewiss keinen naiven Optimismus. Das Fasten von Gedalja soll uns lehren, dass das Unvorstellbare passieren kann, wenn wir denken, dass es eigentlich nicht mehr schlimmer werden kann. Vielleicht hat Ismael, gerade weil das jüdische Volk so verzweifelt und gedemütigt war, diesen feigen Mord begangen. Wenn wir verletzt sind, fügen wir anderen oft den größten Schmerz zu und treffen die furchtbarsten Entscheidungen.
Gedenken an die Massaker vom 7. Oktober
Dieses Jahr fällt Zom Gedalja genau auf den Vorabend des ersten Gedenkens an die Massaker vom 7. Oktober und markiert den ersten Jahrestag des Beginns eines immer noch andauernden Krieges – zwölf Monaten, die für das jüdische Volk zweifelsohne die schmerzhaftesten der jüngeren Geschichte waren.
Einige von uns möchten deshalb ihrem Fasten eine zusätzliche Bedeutung verleihen, indem sie sich die Lehren von Gedaljas Schicksal noch einmal vor Augen führen. So wahr es auch ist, dass wir immer noch trauern, dürfen wir uns von unserem Schmerz nicht blenden lassen. Trauer und Wut, so verständlich sie auch sein mögen, sind schlechte Ratgeber, und Hass führt unweigerlich zur Zerstörung. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass man am Zom Gedalja während des Gottesdienstes eine Torarolle aus dem Schrein nimmt: Erhebende Weisheit und erdrückender Schmerz lassen sich kaum vereinbaren.
Die Autorin ist Talmudlehrerin bei dem europaweiten jüdischen Lernprogramm Ze Kollel. Sie hat an der Hebräischen Universität Jerusalem, der Yeshivat Hadar sowie den Instituten Paideia und Pardes studiert.