Öffentliche Bauten erzeugen immer wieder leidenschaftliche Debatten. In Deutschland sind gerade die Hamburger Elbphilharmonie und der Stuttgarter Hauptbahnhof Beispiele dafür. Manchmal dreht sich die Diskussion um das Aussehen eines Gebäudes, manchmal wird ihm überhaupt jeder echte Nutzen abgesprochen, und natürlich geht es auch immer um die Kosten.
Die Parascha für diese Woche handelt ebenfalls von einem großen und aufwendigen öffentlichen Bau: dem »Mikdasch« (Heiligtum) oder auch »Mischkan« (Wohnung) genannt. Dies war ein transportables Heiligtum für das Volk Israel während seiner langen Wanderung durch die Wüste. Es diente für Gottesdienste und auch als Wohnung Gottes beziehungsweise der »Kawod« Gottes, Seiner Herrlichkeit.
Warum braucht Gott jetzt ein Heiligtum? Bisher ging es doch auch ohne, Gott sprach direkt mit Mosche. Die jüdische Tradition gibt hier zumeist die Antwort, der Bau des Heiligtums wie auch später der des Tempels sei ein Zugeständnis an die Fehlbarkeit des Menschen. Gott braucht keinen besonderen Ort, aber die Menschen haben ihn nötig, um an Gott und seiner Tora festhalten zu können. Der Zwischenfall mit dem Goldenen Kalb, das vom Volk angebetet wurde, habe Gott davon überzeugt, dass das Volk einen festen Platz für die Begegnung mit Gott brauche. Auf das Versagen, auf die Schwäche des Volkes antwortet Gott hier mit noch größerer Nähe und Zuwendung als vorher.
Sklaven Eine weitere Frage ist, wie denn der Bau, dieses aufwendige Projekt, von einer Gruppe entlaufener Sklaven, von Flüchtlingen in der Wüste, überhaupt ausgeführt werden kann. Das ganze Volk soll dazu beitragen, wie es schon in den ersten Versen unserer Parascha angesprochen wird. Es heißt hier: »Wejikechu li teruma, me’et kol isch ascher jidwenu libo« – »und nehmt für mich eine Spende von jedem Menschen, dessen Herz ihn (zu dieser Spende) bewegt«.
In diesem Satz liegt eine deutliche Ambivalenz. Einerseits soll jemand die Spenden nehmen. Im Hebräischen kommt deutlich zum Ausdruck, dass dieses Nehmen eine durchaus aktive und robuste Art des Spendeneintreibens sein kann. Andererseits ist klar, dass durch die Formulierung »dessen Herz ihn zu dieser Spende bewegt« eine freiwillige Leistung bezeichnet wird, die den ehrlichen freien Willen des Spenders voraussetzt. Ohne freien Willen gäbe es auch keine freiwillige Spende.
Schwäche Was bedeutet es, dass es sich beim Bau des Heiligtums einerseits um eine Antwort auf die Schwäche der Menschen handelt, auf ihre Unfähigkeit, wirklich gut zu sein, andererseits aber zum Bau freiwillige Spenden nötig sind, die auf dem freien Willen beruhen, also auf der menschlichen Fähigkeit, ohne Zwang Gutes zu tun? Ist dies ein Widerspruch?
Jede menschliche Gemeinschaft lebt in dieser Spannung von Pflicht und Kür. In der jüdischen Tradition wird sie mit den Begriffen »kewa« und »kawana« bezeichnet. »Kewa« ist das Festgelegte, die Pflicht. »Kawana« hingegen ist wörtlich die »Intention« und bedeutet, dass man das Gleiche tun würde, auch wenn es keine Verpflichtung dazu gäbe. In Bezug auf den Bau des Heiligtums könnte man dann von Steuern sprechen, zu denen man verpflichtet ist, sowie von Spenden, die freiwillig sind.
Das gängigste Beispiel ist das Gebet. Hier gibt es das festgelegte Gebet, die »kewa«, in der sich die Erfahrung und Weisheit des jüdischen Volkes über viele Generationen gesammelt und verdichtet hat. Damit entspricht diese »Kewa« aber nicht stets auch den Gefühlen und Bedürfnissen jedes Einzelnen in jedem Moment. »Kawana« hingegen heißt zum einen, mit welchen Gefühlen, welcher Intention und welcher Betonung ich die Gebete spreche. Es bezeichnet darüber hinaus aber auch einen Freiraum für spontane Gebete.
Anders gesagt, stehen hier Tradition und Spontaneität einander gegenüber. Beide sind aber aufeinander bezogen – ja, letzten Endes ist »Kewa« nichts anderes als der Ertrag vieler Generationen von »Kawana«.
Ein anderes Beispiel finden wir im Zusammenhang mit dem Schofarblasen an Rosch Haschana. Damit man den Klang des Widderhorns wirklich aufnimmt, muss man aktiv hören. Es darf also nicht nur als Geräusch im Gehörgang landen, sondern es muss als Schofarblasen an Rosch Haschana gehört werden wollen. Schon im Talmud ist zu lesen, dass, wer während des Schofarblasens nur zufällig am Fenster der Synagoge vorbeikommt, es nicht wirklich gehört hat.
Entscheidung Dass der Bau des Heiligtums zumindest auch auf freiwilligen Spenden beruht, hat also einen tieferen Sinn. Ein von Mosche, Gott oder den Anführern des Volkes erzwungener Bau könnte sicher manchen berechtigten Bedürfnissen dienen. Ein Dach ist schließlich ein Dach. Zum Zentrum des jüdischen Lebens aber konnten das Wüstenheiligtum und die beiden Tempel nach ihm nur werden, weil es das jüdische Volk so wollte.
Auch heute ist es die freie Entscheidung jedes Juden und jeder Jüdin, ob sie Teil des jüdischen Volkes, Teil der Traditionskette von Awraham und Sara, Mosche und Mirjam bis heute und weiter in die Zukunft sein möchten, oder ob sie und ihre Nachkommen keinen Anteil an der Weiterentwicklung der jüdischen Geschichte haben werden. Auch heute hat beides seine Berechtigung. Die Pflicht, über Gemeindesteuern seinen Teil zu leisten, genauso wie die Notwendigkeit, dass Herz und Verstand aktiv und freiwillig daran beteiligt sind.
Eigentlich geht es bei der Frage von Steuer oder Spende, von Kewa oder Kawana um das Zentrum des Menschseins überhaupt: den freien Willen. Als Gott beabsichtigte, Menschen zu schaffen, warnten ihn nach der jüdischen Tradition die Engel und sagten, diese Menschen würden auch Böses tun und gegen den Willen Gottes handeln. Gott hat uns trotzdem erschaffen. Nicht aus Langeweile, sondern weil er wollte, dass ein Teil der Schöpfung aus eigenem Herzen und freiwillig wählt, das Gute zu tun und das Böse zu lassen.
Um das Gute zu tun, muss man es tun wollen. Es ist viel einfacher, seinem Egoismus freien Lauf zu lassen. Aber nur der Wille, Gutes zu tun, reicht nicht aus, denn das Leben ist zu komplex, als dass man in jeder Situation neu die Gewissensfrage stellen könnte. Die Pflicht, die Tradition, die »Kewa« ist dazu da, uns die Richtung und das Ziel immer wieder vorzugeben, während die »Kawana« dazu da ist, unser Tun immer wieder neu mit Bedeutung zu füllen.