In dem sowjetischen Fernsehfilm Ironie des Schicksals (1975) singt der Protagonist Schenja ein Lied, in dem es recht zynisch heißt: »Wenn du kein Haus hast, dann kann es nicht abbrennen. Wenn du keinen Hund hast, kann der Nachbar ihn nicht vergiften.« Es folgen weitere Abwägungen, und dann endet das Lied mit: »Wenn du niemals lebst, dann kannst du nicht sterben.«
Das klingt nicht sehr aufbauend, stellt aber − natürlich augenzwinkernd − fest, was wir schon in der Mischna lesen. Dort formuliert Rabbi Eleasar Hakappa: »Gegen deinen Willen wurdest du geboren, und gegen deinen Willen wirst du sterben« (Pirkej Awot 4, 29).
Auch die beiden großen Gelehrten Hillel und sein Gegenspieler Schammai debattierten darüber: »Zweieinhalb Jahre waren das Haus Schammai und das Haus Hillel unterschiedlicher Meinung. Jene sagten: Es wäre besser gewesen, der Mensch wäre nicht erschaffen worden, als dass er erschaffen wurde. Und die anderen sagten: Es ist besser, dass der Mensch erschaffen worden ist, als dass er nicht erschaffen worden wäre« (Eruwin 13b)
SPEKULATION Leider können wir nicht Zeugen dieser Diskussion werden, es gibt kein Protokoll des Schlagabtauschs. Vielleicht hätte das Haus Schammai darauf beharrt, dass der Mensch in seinem Ursprung hätte bleiben müssen, also bei G’tt.
Diese Spekulation kann man anstellen, wenn man eine andere Diskussion betrachtet, bei der Hillel und Schammai ebenfalls nichts Halachisches diskutieren: »Was wurde zuerst erschaffen, Himmel oder Erde?« (Chagiga 12a).
Hier gibt Schammai dem Himmel den Vorzug und zitiert einen Vers des Propheten Jeschajahu (66,1): »Der Himmel ist mein Thron und die Erde der Schemel meiner Füße.« Die Hauptsache für ihn ist der Himmel. Das Haus Hillel richtet den Blick auf diese Welt und vertritt den Optimismus, der vielen Diskussionen im Talmud, ja, auch des Judentums insgesamt, innewohnt: Machen wir das Bestmögliche aus der Existenz.
DISKUSSION Doch zurück zur konkreten Diskussion. Diese wird auf sehr ungewöhnliche Weise beendet, jedenfalls für den Talmud: Es wird abgestimmt.
Die Abstimmung gewinnt das Haus Schammai, und die Entscheidung lautet: »Es wäre besser, der Mensch wäre nicht erschaffen worden, als dass er erschaffen wurde.«
Dann fügen die Weisen an: »Jetzt, da er erschaffen wurde, sollte er seine Taten prüfen.« Und andere sagen: »Er sollte seine Handlungen erwägen.«
Wenngleich »prüfen« und »erwägen« eine ähnliche Bedeutung haben, hat etwa der Kommentator Rabbiner Jom Tow ben Awraham Isbilli, genannt Ritwa (1250–1320) angemerkt, man solle seine bisherigen Taten prüfen und seine zukünftigen genau abwägen.
Zusammengefasst in anderen Worten: Es wäre besser gewesen, nicht geboren zu werden, aber wenn wir schon einmal hier sind, dann müssen wir das Beste daraus machen.
Der Pragmatismus der Weisen des Talmuds ist zurück! Alles andere wäre zu verstörend. So sahen das wohl auch frühere Kommentatoren, deshalb versuchen sie, die Stelle etwas zu relativieren. So heißt es in den Tosafot zu der Stelle, die Diskussion beziehe sich auf schlechte Menschen. Das Leben guter Menschen sei durchaus ein Gewinn.
Ganz sachlich fährt der Talmud anschließend mit einer Diskussion über Querbalken fort und ist wieder mitten im Leben. Man hat zweieinhalb Jahre diskutiert, ist zu einem wenig aufbauenden Ergebnis gekommen und hat beschlossen, das Beste daraus zu machen.
Auch Schenja, der singende Protagonist unseres Films, ist nicht entmutigt, sondern kommt am Ende natürlich mit der richtigen Frau zusammen und macht das Beste daraus.