Zedaka

Geben, was uns gegeben wurde

Das traditionelle Judentum kennt kein Eigentum im modernen Sinne: Wenn wir für Bedürftige spenden, geben wir nur zurück, was uns von G’tt anvertraut wurde. Foto: Getty Images

Elul ist der Monat vor Rosch Haschana, dem jüdischen Neujahr. Darüber hinaus ist Elul der aramäische Name des sechsten Monats des Jahres, aber auch ein Akrostichon der Liebeserklärung aus dem Schir HaSchirim, dem Hohelied (6,3): »Ani leDodi weDodi li«, zu Deutsch: »Ich gehöre meinem Geliebten, und mein Geliebter gehört mir.« Das Wort »Geliebter« steht für G’tt, der uns in allem, was wir tun, unterstützt, aber natürlich ebenso für unsere Mitmenschen.

Elul ist der Monat, in dem wir mit der Teschuwa beginnen, und zwar der Buße für alles, was im vergangenen Jahr in unserer Beziehung zu G’tt und zu unseren Mitmenschen schiefgelaufen ist. Elul ist deshalb nicht nur für gute Vorsätze für das kommende Jahr, also 5785 (2024/2025), gedacht. Wir müssen auch all das korrigieren oder in richtige Bahnen lenken, was wir im zu Ende gehenden Jahr 5784 falsch gemacht haben. Dabei stellt sich die Versöhnung im zwischenmenschlichen Bereich wohl als das Schwierigste heraus. Denn G’tt verzeiht uns zumeist ganz – den Menschen aber fällt es oftmals schwer, zu vergeben und zu vergessen.

Prozess der Vergebung

Wie können wir nun den Prozess der Vergebung beschleunigen oder überhaupt erst einmal richtig einleiten? Chasal, unsere Weisen, erklären uns, dass Haschem uns auf Basis der Art und Weise bewertet, wie wir andere Menschen beurteilen, behandeln und ihnen begegnen. Tatsächlich gibt es eine talmudische Aussage von Rava, die genau dies veranschaulicht.

So sagte Rava, wenn wir die Chotspes (Brutalitäten) und Unannehmlichkeiten, die uns andere Menschen beschert haben, vergessen und keine große Sache daraus machen, dann verhält sich G’tt analog dazu und macht auch keine große Sache aus all unseren Sünden. Rava stützt dies auf folgenden Pasuk (Vers): »Er vergibt Sünden und macht kein Hehl aus Übertretungen« (2. Buch Mose 34,7).

Wem also vergibt G’tt seine Sünden? Die Antwort darauf kann nur lauten: denjenigen, die die Übertretungen anderer dulden (Talmud Rosch Haschana 17a).

Diese talmudische Aussage konzentriert sich auf die zwischenmenschlichen Beziehungen. Das heißt, wenn wir weder Rache üben noch auf Beleidigungen reagieren oder in irgendeiner Weise so unangenehm agieren wie die Personen, die uns diffamieren, und das uns angetane Unrecht einfach an uns vorbeirauschen lassen, haben wir – neben viel zwischenmenschlichem Elend, das uns so erspart bleibt – einen klaren Pluspunkt im Himmel und letztendlich auch vor uns selbst verdient. Vor himmlischen Strafen sind wir zudem ebenfalls besser gefeit. Diese talmudische Aussage bezieht sich jedoch auf zwischenmenschliche Beziehungen.

Alle irdischen Güter werden uns nur mit der Absicht zur Verfügung gestellt, Gutes zu tun.

Im Monat Elul versuchen wir, eine Bilanz des zu Ende gehenden Jahres zu ziehen. Wir bitten unsere Freunde, Familie, Nachbarn oder Mitarbeiter, Lehrer und Mitschüler um Vergebung. Darüber hinaus sprechen wir zusätzliche Gebete, Slichot- oder Bittgebete, in denen wir G’tt um Vergebung bitten.

Unterstützung der Armen, Bedürftigen und weniger Glücklichen

Ein weiteres zentrales Element unserer Religion ist die Zedaka, die Unterstützung der Armen, Bedürftigen und weniger Glücklichen. Leider gibt es von ihnen immer noch zu viele. Das jüdische Volk ist bekannt für seine Wohltätigkeitsorganisationen und den sehr hohen Stellenwert, den wir der gegenseitigen sozialen Unterstützung zuschreiben. Und hier kommt das jüdische Solidaritätsgefühl ins Spiel.

Ich selbst arbeitete gerade an einem Buch über Zedaka und möchte deshalb einige Gedanken daraus teilen. Egal, wie intensiv wir von außen angegriffen werden, unser Schalom Bayit, unsere interne Einheit, garantiert unser Überleben.

Dieses Thema ist von zentraler Bedeutung für das jüdische Denken, die Liturgie und den G’ttesdienst vom 1. Elul bis Jom Kippur. Verbundenheit mit unserer jüdischen Tradition, unserem Heimatland, mit G’tt und untereinander – all das macht den Kern jüdischer Identität und Kontinuität aus.

Diese gegenseitige Solidarität bringen wir in der Zedaka auf finanzielle Art und Weise zum Ausdruck. Normalerweise übersetzen wir den Begriff »Zedaka« mit »Wohltätigkeit«. Aber das hebräische Äquivalent für Wohltätigkeit lautet »Chesed«. Wir verwenden trotzdem das Wort »Zedaka« anstatt »Chesed«, da beide Wörter unterschiedliche Konzepte ausdrücken.

Wohlwollen des Spenders

Der Begriff »Chesed« betont das Wohlwollen des Spenders. Es ist weder erforderlich, dass der Empfänger die Leistung verdient, noch ist der Spender verpflichtet, etwas zu spenden; man möchte nur aus Großzügigkeit einem Dritten etwas Gutes tun. »Zedaka« wird von dem Wort »Gerechtigkeit« abgeleitet. Das bedeutet, dass der Mensch auf der Grundlage des Gesetzes und des Sinns für Gerechtigkeit einen Beitrag leisten muss.

Folgt man einigen Grundprinzipien jüdischen Denkens, dann besitzen wir eigentlich kein Eigentum. Alle irdischen Güter werden uns nur mit der Absicht zur Verfügung gestellt, gute Werke zu tun. Es gibt im Hebräischen kein Verb für »haben«. Es heißt in der Schrift »jesch li«, auf Deutsch: »Es ist für mich da.« In unserer religiösen Tradition ist Eigentum nur Besitz, der uns von G’tt anvertraut wurde und mit dem wir verpflichtet sind, Gutes zu tun.

Wir sind auf den Allmächtigen angewiesen, der uns mit allem versorgt, was wir brauchen. Deshalb müssen wir G’tt auch etwas zurückgeben. Das geschieht in der Form, dass wir Arme, Kranke und Bedürftige unterstützen. So wie G’tt uns nichts schuldet und uns dennoch gibt, so sind auch wir verpflichtet, den weniger Glücklichen zu helfen, obwohl wir ihnen nichts schulden. Zedaka hat also viele Aspekte.

Wie sieht die optimale Form von Wohltätigkeit eigentlich aus? In allen Medien von unseren Wohltaten zu verkünden oder mit unserer Großzügigkeit gegenüber den Armen zu prahlen, zeugt nicht von einem guten Charakter.

Verborgene Motive und tiefe Gefühle

Unsere Weisen erkannten, dass sich hinter einer Fassade der Nächstenliebe auch verborgene Motive und tiefe Gefühle verbergen können. Doch in der Praxis berücksichtigten sie bei der Beurteilung einer wohltätigen Tat nur die Motive des Spenders, die wesentlich sind. Zedaka wird nur dann verurteilt, wenn sie ganz bewusst als Ausdruck von Gefühlen wie Stolz und Egoismus gegeben wird. Nur wenn Zedaka genutzt wird, um sich gegenüber denen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, besser und überlegen zu fühlen, legen die Chachamim ihr Veto ein.

Wenn die Überhöhung des eigenen Ichs anstelle von Nächstenliebe im Mittelpunkt steht, dann spricht man besser von »Schuld« statt »Verdienst«. Andererseits kann das, was auf der Ebene des Unterbewusstseins geschieht, den spirituellen Wert einer Spende nicht schmälern. Im Gegenteil: Die Transformation zweifelhafter Charaktereigenschaften in großzügige Taten gilt im Judentum als ein Triumph höchsten Ranges.

Obwohl verschiedene Gelehrte glauben, dass das Ziel, eine völlige Reinheit des Geistes zu erreichen, durchaus im Bereich unserer Möglichkeiten liegt, sind die Erwartungen, beispielsweise die von Rabbi Chaim aus Volozhin (1749–1821), weniger hochgesteckt. Er rechnet nicht mit einer wundersamen Heilung von Egoismus oder Egozentrik. Als Ergebnis regelmäßiger Wohltaten aus Liebe können wir aber hoffen, dass zumindest einige der Gründe, die uns zur Zedaka motivieren, aus unserem aufrichtigen Wunsch entspringen, G’tt zu dienen.

Keine Forderungen nach Perfektionismus

Das Judentum kennt keine Forderungen nach Perfektionismus. Auch wenn unsere höchsten Ziele immer noch mit Restbeständen aus Egoismus, Groll oder sogar Feindseligkeit behaftet sind, so gibt uns das nicht das Recht, jegliche moralische Anstrengung zu verwerfen. Das Wissen um unsere Unvollkommenheit führte im Judentum eben nicht zu einer Obsession mit der Erbsünde; es führt nur zu der Erkenntnis, dass auch unsere niederen Neigungen auf eine höhere Ebene gehoben werden müssen. Die Menschheit ist kein Kollektiv von verdammten Individuen, die für ihre Erlösung auf eine »Gnade« angewiesen sind. Unser Fokus liegt auf der moralischen Verantwortung, die sich in der ständigen Suche nach Selbstverbesserung manifestiert. Dem gehen wir auch ständig nach.

Maimonides differenziert zwischen acht verschiedenen Ebenen in der Verteilung der Zedaka. Dabei achtet er nicht nur auf die körperlichen Bedürfnisse des Empfängers. Vielmehr zeigten unsere Rabbiner stets ein großes Verständnis für die psychischen Nöte der Hilfsbedürftigen. Die Rücksichtnahme auf den Erhalt des Selbstwertgefühls und die Wertschätzung für das Streben nach – auch wirtschaftlicher – Unabhängigkeit führten zu dem Ideal, einem armen Menschen zu helfen, selbst wenn er noch nicht ganz der Hilfe bedürftig ist.

Mit unserer Großzügigkeit zu prahlen, zeugt nicht von einem guten Charakter.

Ein Beispiel: Ein Mensch steht am Rande der Insolvenz, kann aber durch die Überlassung von finanziellen Mitteln für einen Neuanfang, etwa mit dem Recht des Kreditgebers an einer Gewinnbeteiligung oder durch die Gewährung eines Darlehens, gerettet werden. Der für den Moment Bedürftige kann dann weiterhin selbst für seinen Lebensunterhalt sorgen. Auf diese Weise muss sich der Empfänger nicht schämen, wobei das Anbieten einer geschäftlichen Partnerschaft gegenüber dem Gewähren eines Darlehens Präferenz haben sollte, da sich der Empfänger auf diese Weise überhaupt nicht schämen muss – schließlich können beide davon profitieren.

Und darum geht es in diesen Tagen der Buße und des Guten: auf allen Ebenen Rücksicht auf die Befindlichkeiten des anderen zu nehmen. Auf diese Weise bauen wir eine schöne, solidarische jüdische Gemeinde auf.

Der Autor ist Rabbiner und lebt in Israel.

Hochschule

»Herausragender Moment für das jüdische Leben in Deutschland«

Unter dem Dach der neuen Nathan Peter Levinson-Stiftung werden künftig liberale und konservative Rabbinerinnen und Rabbiner ausgebildet. Bei der Ausbildung jüdischer Geistlicher wird die Uni Potsdam eng mit der Stiftung zusammenarbeiten

von Imanuel Marcus  17.09.2024

Vertreibung

Vor 600 Jahren mussten die Juden Köln verlassen - Zuflucht auf der anderen Rheinseite

Die älteste jüdische Gemeinde nördlich der Alpen - und dann ist auf einmal Schluss. Vor 600 Jahren verwies Köln seine Juden der Stadt. Viele zogen darauf gen Osten, manche kamen dabei nur ein paar Hundert Meter weit

von Johannes Senk  17.09.2024

Talmudisches

Lügen aus Gefälligkeit

Die Weisen der Antike diskutierten darüber, wann man von der Wahrheit abweichen darf

von Rabbiner Netanel Olhoeft  13.09.2024

Ki Teze

»Hüte dich vor allem Bösen«

Was die Tora über ethisch korrektes Verhalten bei Militäreinsätzen lehrt

von Yonatan Amrani  12.09.2024

Berlin

»Ein bewegender Moment«

Am Donnerstag fand in Berlin die feierliche Ordination von zwei Rabbinerinnen sowie sechs Kantorinnen und Kantoren statt. Doch auch der monatelange Streit um die liberale Rabbinatsausbildung in Deutschland lag in der Luft

von Ralf Balke  09.09.2024 Aktualisiert

Potsdam/Berlin

Neue Stiftung für Ausbildung von Rabbinern nimmt Arbeit auf

Zentralratspräsident Schuster: »Die neue Ausbildung öffnet wichtige internationale Horizonte und Netzwerke innerhalb des liberalen und konservativen Judentums«

von Yvonne Jennerjahn  13.09.2024 Aktualisiert

Schoftim

Das Wort braucht auch die Tat

Warum Gerechtigkeit mehr als nur leeres Gerede sein sollte

von Rabbiner Alexander Nachama  06.09.2024

Talmudisches

Bedürfnisse der Bedürftigen

Was unsere Weisen über zinslose Darlehen lehrten

von Yizhak Ahren  06.09.2024

Sanhedrin

Höher als der König

Einst entschieden 71 Gelehrte über die wichtigsten Rechtsfragen des Judentums. Jeder Versuch, dieses oberste Gericht wiederaufzubauen, führte zu heftigem Streit – und scheiterte

von Rabbiner Dovid Gernetz  06.09.2024