Die heutige Parascha lehrt uns, dass wir Juden Idealisten sind, weil wir auf die Vervollkommnung der unvollkommenen Welt hoffen. Noch sind wir mit der völlig anders gearteten Realität der Gegenwart konfrontiert, wie dies am kommenden Dienstag der Fall sein wird, wenn wir den 17. Tamus begehen.
Als einer der Fasttage, die uns an unsere Unvollkommenheit und unseren Ungehorsam gegenüber der Tora erinnern, markiert der 17. Tamus den Tag, an dem die Mauern Jeruschalajims von den zerstörerischen Heeren durchbrochen wurden. Nach weiteren drei Wochen gedenken wir der großen Tragödie, die durch die Zerstörung des Zentrums unseres Volkes, nämlich des Beit haMikdasch, ausgelöst wurde.
Bedrängnis Wir befinden uns kurz vor den drei Wochen der Bedrängung, Bejn haMejzarim, der Zeit zwischen dem 17. Tamus und dem 9. Aw. Diese Zeit bietet uns die großartige Möglichkeit des Umdenkens und der Besinnung. Unsere Parascha ermahnt uns, die Trauer in Freude umzuwandeln, uns der Tora zuzuwenden und die Gebote als sinngebend für unser Leben umzusetzen.
Wir erinnern uns an die Zerstörung der Mauern Jeruschalajims und des Beit haMikdasch, des Tempels. Dabei denken wir an unsere unvollkommene Existenz. Zugleich singen wir aber an jedem Schabbat und Feiertag seit vielen Jahren und ungeachtet aller Zerstörungen, die unser Volk heimsuchten, die Worte aus Psalm 51: »Aw harachamim, hejtiwa wirzoncha et Zijon, tiwneh chomt Jeruschalajim – Barmherziger Vater, es sei Dein Wille, Zion Gutes zu erweisen. Baue die Mauern Jeruschalajims!«
Jede Zerstörung birgt die Chance eines Neuanfangs in sich. Die haben die Chachamim, unsere Weisen, nach dem Trauma der Zerstörung des Tempels in besonderer Weise ergriffen. Sie waren sich bewusst, dass nach der Zerstörung der zentralen Opferstätte nun dem Gebet die wichtigste Position in unserer Tradition eingeräumt werden müsse. Und so formten sie den Opferdienst (Awoda) in den Opferdienst des Herzens (Awoda sche baLew), das Gebet, um.
In unseren vielfältigen Gebeten, vor allem in der Amida, bitten wir um Erlösung, Befreiung und um Vervollkommnung der unvollkommenen Welt. Jeder Einzelne von uns soll sich daran beteiligen.
Friedensbund Wir müssen uns aber auch vergegenwärtigen, dass Zerstörung durch Unfrieden herbeigeführt, Vervollkommnung hingegen durch Frieden erreicht wird. Diese Tatsache lehrt uns die heutige Parascha. Schon im ersten Abschnitt lesen wir von Pinchas ben Elasar, Aharons Enkel, mit dem G’tt einen Friedensbund geschlossen hat. Pinchas bewahrte sein Volk vor Zerstörung und Untergang. Er brachte G’ttes Forderungen vor dem Volk zur Geltung und wendete die Zerstörung ab, denn es herrschte Unfrieden unter dem Volk.
Wahrer Friede oder Vollkommenheit – der hebräische Begriff »Schalom« lässt beide Möglichkeiten der Übersetzung zu – beruht auf dem Frieden aller Menschen mit G’tt. Jeder ist aufgefordert, sich für diesen Frieden, für diese Vervollkommnung, einzusetzen. Nicht die Teilnahmslosigkeit der Massen, sondern die Tat des Pinchas hat das Volk gerettet und ihm den Frieden mit G’tt und Seiner Tora gebracht. Beide Seiten, Zerstörung und Vervollkommnung, ringen in uns. Darauf, so erklären die Chachamim, weist das gebrochene Waw im Wort Schalom hin.
Der Pinchasbund symbolisiert den wiederzusammengefügten Frieden, der wegen Pinchas’ Eifer gebrochen war und durch Pinchas’ ehrlichen Kampf wiederhergestellt wurde. Wir leben in einer unvollkommenen Welt, doch unsere Rabbinen erklären, dass Pinchas identisch ist mit Elijahu, in dessen Auftreten für die Sache G’ttes in Israel ebenfalls der Geist des Pinchas regiert.
Vorbote Bekanntlich ist Elijahu der Vorbote der Erlösung. Er wird kommen, um den Bund des Friedens zu verwirklichen, wenn jung und alt wieder in Frieden und Eintracht zusammenleben, der Generationenkonflikt gelöst wird, wie es der Prophet Malachi schreibt: »Er (Elijahu haNawi) führt das Herz der Väter zu den Kindern und das Herz der Kinder zu ihren Vätern«.
Im Ringen mit den erwähnten beiden Seiten der Zerstörung und der Vervollkommnung ist uns Elijahu haNawi ein gutes Vorbild, insbesondere am Schabbat, der ein Vorgeschmack auf die Zukunft ist. Ein Pijut für den Schabbat nach dem 17. Tamus beleuchtet dieses Thema in poetischer Form:
»Denke doch an den Weinstock Deiner Pflanzung, an das Los Deines Anteils, an Deinen schönen Weinberg (Israel)! Bringe sie schnell zu Deinem Heil, Schöpfer! Lass sie im Glanze Deines Lichtes leuchten, bewahre sie Tag und Nacht!
Schweige nicht! Erbaue wieder Deine wunderbare Stadt, vertreibe den Wildwuchs im Schilf, erwirb Deine Nation zum zweiten Mal. Vermehre wie Sand ihre Heere und erfülle die Weissagung ihrer Propheten: Eine prächtige Decke soll über ihren Versammlungsplätzen liegen!
Schmücke sie wie einen Bräutigam und setze sie in eine feste Wohnung, überhäuft mit vielen Geschenken. Bringe die Herrschaft wieder an seinen rechtmäßigen Eigentümer zurück, breite Deinen Schirm über sie aus, lass sie glänzen wie eine Braut in ihrem Schmuck. Sende uns Erlösung und ein angenehmes Lied singen wir Dir, wie damals, als wir aus der Sklaverei zogen …«
Der Autor ist Leiter des religiösen Erziehungswesens der IKG München.
Paraschat Pinchas
Der aktuelle Wochenabschnitt berichtet vom gleichnamigen Priester, der durch seinen Einsatz den Zorn G’ttes abwenden konnte. Dafür wird er mit dem »Bund des ewigen Priestertums« belohnt. Die kriegsfähigen Männer werden gezählt, und das Land Israel wird unter den Stämmen aufgeteilt. Mosches Leben nähert sich dem Ende. Deshalb wird Jehoschua zu seinem Nachfolger bestimmt. Zum Schluss der Parascha stehen Opfervorschriften.
4. Buch Moses 25,10 – 30,1