Auf dem Berg Sinai hat Mosche die Tora von Gott erhalten. »Das Studium Moses’ während der vierzig Tage war so eingeteilt, dass Gott bei Tage mit ihm die schriftliche Lehre studierte und nachts die mündliche«, heißt es in einer dieser von Louis Ginzberg am Anfang des 20. Jahrhunderts herausgegebenen und nun nach fast 100 Jahren erstmals auf Deutsch erschienenen Legenden der Juden.
Dieser Bestandteil der »mündlichen Tora« besteht aus Erzählungen, Sagen, Gleichnissen aus dem und um den biblischen Stoff und wird als Aggada bezeichnet, die rabbinische Erzählliteratur. Ginzberg bezeichnet die Legenden jedoch explizit als jüdische Literatur, da sie auch nichtrabbinische Quellen einbinden. Die Aggada ist die zweite Quelle der rabbinischen, jüdischen Literatur neben der gesetzgebenden Halacha. Aggada und Halacha gelten als die zwei Feuer der Tora.
gleichnis »Ich will dir ein Gleichnis sagen, womit dies zu vergleichen ist; wenn von zwei Menschen einer Edelsteine und einer allerlei Nähgeräte verkauft, so hat wohl derjenige Zulauf, der allerlei Nähgeräte verkauft.« So werden in einem weiteren Gleichnis aus den Legenden der Juden Aggada und Halacha verglichen, wobei die Halacha natürlich der Edelstein ist und die Aggada von größerem Nutzen im Alltag.
In der schriftlichen Tora findet sich nichts von der Legende, wie Gott am sechsten Tag der Schöpfung den Bergmenschen schuf: »Ein merkwürdiges Geschöpf ganz eigentümlicher Art ist der Bergmensch. Er hat ganz und gar die Gestalt eines Menschen, jedoch ist er vermittelst einer Nabelschnur an der Erde befestigt, und sobald diese Schnur zerrissen wird, so stirbt er.«
Aggada und Halacha gelten als die zwei Feuer der Tora.
Diese und sehr viele andere Erzählungen sowie allegorische biblische Deutungen hat Louis Ginzberg in jahrzehntelanger Arbeit gesammelt, zusammengefasst und herausgegeben.
LITAUEN Ginzberg wurde 1873 im litauischen Kowno, dem heutigen Kaunas, geboren. Die Stadt gehörte damals zum Russischen Zarenreich, rund ein Drittel der Bevölkerung war jüdisch. Ginzberg studierte in Heidelberg und Straßburg, wanderte 1898 nach Amerika aus und wurde Professor am Jewish Theological Seminary in New York.
Seine Muttersprache war Litauisch, er schrieb jedoch auf Deutsch. The Legends of the Jews, sein siebenbändiges Hauptwerk, wurde von Henrietta Szold ins Englische übersetzt. Die 15 Jahre ältere, auf einer israelischen Banknote Verewigte verband mit Ginzberg eine unerwiderte Liebe.
Das Standardwerk erschien zwischen 1909 und 1938 und wurde in viele Sprachen übersetzt. Martin Buber hatte sich frühzeitig, jedoch vergeblich um eine deutsche Übersetzung bemüht. Das Originalmanuskript mit hebräischen, jiddischen und englischen Passagen lag bisher unbeachtet im Archiv. Dieses Urdokument ist als Faksimile unter www.ginzberg.ethz.ch einsehbar. Nun ist das gewaltige Werk, 1444 Seiten ohne Anhang und Literaturverzeichnis, erstmals auf Deutsch veröffentlicht.
PUBLIKUM Ginzberg wandte sich bewusst an das wissenschaftliche Publikum und an eine allgemeine Leserschaft. Das macht auch die deutsche Ausgabe zu einem Vergnügen; es hilft zwar, wenn man das profunde Vorwort des Herausgebers Andreas Kilcher liest. Begriffe wie Mischna, Midrasch, Halachot, Tosefta zu kennen, auch eine gewisse Kenntnis des Tanachs, der Hebräischen Bibel, tut gut, doch die Legenden kann selbst ein Laie mit Genuss lesen.
Denn das, was Ginzberg und andere Herausgeber der frommen Legenden so fasziniert, sind die funkelnden, teilweise psychedelisch wirkenden, manchmal grausamen Geschichten von Nebukadnezar, dem Pharao, den biblischen Helden, sprechenden Katzen, Einhörnern und Phönix, die bis heute ihren Reiz nicht verloren haben und die man so nicht aus dem Tanach kennt.
Das Gute ist: Man muss dieses dicke Buch nicht von vorne bis hinten komplett lesen wie andere Ehrfurcht gebietende Mammutwerke, man kann von der Schöpfung zu David oder Salomon springen, ohne den Anschluss zu verlieren.
Louis Ginzberg: »Die Legenden der Juden«. Jüdischer Verlag, Berlin 2022,
1499 S., 58 €