Nachruf

Fürst der Tora

Ein außergewöhnlicher Gelehrter: Rabbiner Chaim Kanievsky sel. A. (1928–2022) Foto: Flash90

Etwa 750.000 Menschen – also jeder zwölfte Einwohner Israels – haben dem prominenten charedischen Rabbiner Chaim Kanievsky am vergangenen Sonntag in Bnei Brak das letzte Geleit gegeben. Anlässlich Kanievskys Beerdigung wurden Autobahnen im Umkreis der vor allem von ultraorthodoxen Juden bewohnten Stadt im Zentrum des Landes weiträumig gesperrt und Schulen geschlossen. Vorab hatten israelische Politiker vor einer Massenpanik gewarnt, die glücklicherweise ausblieb. Nur wenige Menschen wurden im Gedränge der Prozession leicht verletzt.

Kanievsky wurde »Maran« (»unser Meister«) sowie »Fürst der Tora« oder »Prinz der Tora« genannt. Er galt als einer der führenden Gelehrten der litauischen Strömung der Ultraorthodoxie und als eine der größten halachischen Autoritäten weltweit. Am vergangenen Freitag ist der Rabbiner im Alter von 94 Jahren gestorben. Berühmt war Kanievsky für seine außergewöhnlichen Talmudkenntnisse: Er konnte ganze Seiten auswendig zitieren.

SMARTPHONES Bekannt wurde Kanievsky auch als vehementer Gegner des Internets: Im Jahr 2012 forderte er Juden auf, ihre Smartphones zu zerstören. Doch der Rabbi war alles andere als ein verknöcherter Gelehrter, der sich der modernen Welt verschloss. 2016 erklärte er in einer aufsehenerregenden Entscheidung medizinisches Cannabis als »koscher für Pessach«. Und 2017 entschied er, dass Kindesmissbrauch bei den zuständigen Behörden gemeldet werden sollte.

»Reb Chaim wurde regelmäßig aus der ganzen Welt zu allen möglichen Fragen der Halacha (jüdisches Gesetz) und der Haschkafa (weltanschauliche Fragen) konsultiert und traf kühne Entscheidungen«, erinnert sich Rabbiner Raphael Evers, ehemaliger Oberrabbiner von Düsseldorf, an den Einfluss des Gelehrten: »Jeden Tag empfing er Dutzende von Menschen für eine Bracha oder ein persönliches Gespräch. Seine Entscheidungen waren in der Regel sehr kurz: koscher, treife, ›vielleicht‹ oder ›besser nicht‹.«

Weit über die Grenzen seiner charedischen Gemeinschaft hinaus wurde Rabbiner Kanievsky weltweit aber vor allem für seinen Sinneswandel im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie geachtet. Sein Umgang damit ist ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie ein Mensch auch in hohem Alter flexibel und pragmatisch auf eine Krise reagieren kann, weil er (gemäß der Halacha) den Wert des Lebens über alles stellt – selbst über eine der wichtigsten Traditionen im Judentum, die des gemeinsamen Lernens. Zu Beginn der Pandemie hatte sich der prominente Rabbiner noch vehement gegen die Schließung ultraorthodoxer Schulen und Jeschiwot gewehrt: Dies sei gefährlicher als das Coronavirus, insistierte er.

Rabbiner Kanievsky erkannte die Corona-Gefahr und fällte klare Entscheidungen.

Doch als Kanievsky sah, wie viele charedische Juden an Covid-19 starben, schwenkte er um. Bereits Ende März 2020 fällte der Gelehrte eine halachische Entscheidung, laut der derjenige, der die damaligen Regeln der Regierung breche und in Gruppen statt allein bete, als »Rodef« gelten könne – ein talmudischer Begriff für einen Menschen, der andere in Lebensgefahr bringt. Im Oktober 2020 überstand der Gelehrte selbst eine Covid-19-Infektion. Später gab der Rabbiner sogar der Impfung von Kindern zwischen fünf und elf Jahren seinen Segen.

Schemarjahu Joseph Chaim Kanievsky wurde 1928 in Pinsk im damaligen Polen (heute Belarus) geboren und stammte aus einer angesehenen Familie. Sein Vater, Rabbiner Jakob Israel Kanievsky, war bekannt als »der Steipler Gaon«, seine Mutter Miriam war eine Schwester von Rabbiner Abraham Jeschajahu Karelitz (nach seinem Werk »Chason Isch« genannt), der die Grundhaltung der litauischen Orthodoxie in Israel maßgeblich geprägt hat.

WUNDERKIND 1934 wanderte der junge Chaim mit seiner Familie ins damalige Palästina ein. Schon damals galt er als Wunderkind. Den Babylonischen Talmud lernte er mit 17 Jahren zum ersten Mal zu Ende. Um diese Leistung zu würdigen, muss man wissen, dass man mehr als sieben Jahre braucht, wenn man jeden Tag ein Blatt studiert (»Daf jomi«), um den Abschluss (»Sijum«) feiern zu können. Später hat Rabbiner Kanievsky neben anderen Tora-Studien täglich acht Talmudblätter gelernt, sodass er jedes Jahr am Morgen vor der Sedernacht einen Sijum abhalten konnte!

Kanievsky, der in der Armee des jungen Staates Israel diente, heiratete Batsheva Elyashiv, Tochter des litauischen Rabbiners Yosef Shalom Elyashiv. Mit ihr hatte er acht Kinder. Bis zu seinem Tod 2012 war Elyashiv inoffizieller Anführer des litauisch-charedischen Judentums und »Posek« (Entscheider) der ultraorthodoxen Partei »Degel Hatora«. Kanievsky gelangte später in eine ähnliche Rolle, obwohl er keine offizielle Funktion übernahm.

Der Rabbiner verfasste zahlreiche Schriften zum jüdischen Recht, darunter Derech Emunoh und Derech Chochmoh. Geschrieben hat er unter anderem auch Bibelauslegungen und ein Buch über die Semirot, die man an der Schabbat-Tafel singt. In Kanievskys Privatarchiv befinden sich mehr als 70.000 Anfragen, die alle beantwortet worden sind. Übrigens überließ es Rabbiner Kanievsky seiner Ehefrau Batsheva, Anfragen von Frauen zu beantworten. Nach deren Tod im Jahre 2011 hat eine Tochter, Rebbetzin Lea Kolodetzky, diese Aufgabe übernommen.

beerdigung Nun wurde Kanievsky an der Seite seiner Frau auf dem Friedhof »Sichron Meir« in Bnei Brak begraben. Rabbiner Gershon Edelstein (99), seit 2017 zusammen mit Kanievsky spiritueller Mentor von »Degel Hatora«, sagte bei der Beerdigung: »Wir sind eine verwaiste Generation.«

Bereits nach Bekanntgabe von Kanievskys Tod hatte Israels Präsident Isaac Herzog erklärt, die Liebe des Rabbiners zur Tora, seine Bescheidenheit, Demut und spirituelle Führung fehlten »der Jeschiwa-Welt und dem gesamten Volk Israels«. Auch Premierminister Naftali Bennett drückte sein Beileid aus: »Kanievsky hat immer dafür gesorgt, jeden Menschen mit offenem Herzen und Unbeschwertheit zu empfangen.«

Rabbiner Yehoyada Amir

»Wir werden geduldig sein«

Der Leiter des neuen Regina Jonas Seminars über die liberale Rabbinerausbildung in Potsdam, einen überfälligen Neuanfang und die Zukunft des liberalen Judentums in Deutschland

von Ayala Goldmann  19.09.2024

Hochschule

»Herausragender Moment für das jüdische Leben in Deutschland«

Unter dem Dach der neuen Nathan Peter Levinson-Stiftung werden künftig liberale und konservative Rabbinerinnen und Rabbiner ausgebildet. Bei der Ausbildung jüdischer Geistlicher wird die Uni Potsdam eng mit der Stiftung zusammenarbeiten

von Imanuel Marcus  17.09.2024

Talmudisches

Lügen aus Gefälligkeit

Die Weisen der Antike diskutierten darüber, wann man von der Wahrheit abweichen darf

von Rabbiner Netanel Olhoeft  13.09.2024

Zedaka

Geben, was uns gegeben wurde

Warum man sich im Monat Elul Gedanken über die Motive der eigenen Wohltätigkeit machen sollte

von Rabbiner Raphael Evers  13.09.2024

Ki Teze

»Hüte dich vor allem Bösen«

Was die Tora über ethisch korrektes Verhalten bei Militäreinsätzen lehrt

von Yonatan Amrani  12.09.2024

Berlin

»Ein bewegender Moment«

Am Donnerstag fand in Berlin die feierliche Ordination von zwei Rabbinerinnen sowie sechs Kantorinnen und Kantoren statt. Doch auch der monatelange Streit um die liberale Rabbinatsausbildung in Deutschland lag in der Luft

von Ralf Balke  09.09.2024 Aktualisiert

Potsdam/Berlin

Neue Stiftung für Ausbildung von Rabbinern nimmt Arbeit auf

Zentralratspräsident Schuster: »Die neue Ausbildung öffnet wichtige internationale Horizonte und Netzwerke innerhalb des liberalen und konservativen Judentums«

von Yvonne Jennerjahn  13.09.2024 Aktualisiert

Schoftim

Das Wort braucht auch die Tat

Warum Gerechtigkeit mehr als nur leeres Gerede sein sollte

von Rabbiner Alexander Nachama  06.09.2024

Talmudisches

Bedürfnisse der Bedürftigen

Was unsere Weisen über zinslose Darlehen lehrten

von Yizhak Ahren  06.09.2024