In dieser Woche beschäftigen wir uns mit einem der bekanntesten Verse im Wochenabschnitt Kedoschim: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.« Sigmund Freud (1856–1939) schrieb in seinem Buch Das Unbehagen der Kultur, dass das Gebot der Nächstenliebe eine Überforderung sei und daher nicht ausführbar: »Das Gebot ist undurchführbar; eine so großartige Inflation der Liebe kann nur deren Wert herabsetzen, nicht die Not beseitigen.«
Wie wird das Gebot »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« im Judentum interpretiert, und wie wird es in der jüdischen Gemeinschaft umgesetzt? Rabbi Akiva (40–137 n.d.Z.) bezeichnete diesen Vers als eine große Regel in der Tora, und er ist nur einer von vielen Rabbinern und Weisen, die über dieses Gebot geschrieben haben. Obwohl das Gebot uns durchaus vertraut ist, betrachten wir selten den tatsächlichen Wortlaut der Tora.
GEBOT Das Gebot besteht aus drei Worten: »We’ahavta lereacha kamocha«, was allgemein mit »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« übersetzt wird. Maimonides, der Rambam (1135–1204), beschreibt in seiner Mischne Tora das Gebot wie folgt: »Alles, was du wünschst, dass andere für dich tun, tue für deinen Bruder in Tora und Mizwot.«
Es scheint, dass der Rambam das Gebot als eine technische Mizwa betrachtet, eine einfache Regel, die man befolgen muss. Und er scheint nicht zu spezifizieren, wie das Gefühl Liebe aussehen muss. Eine ähnliche Interpretation stammt von dem Weisen Hillel (ca. 110 v.d.Z. – 10 n.d.Z.), der auf die Frage, ob er die gesamte Tora zusammenfassen könne, antwortete: »Was dir zuwider ist, das tue nicht anderen an.«
Der Rambam vermittelt auf den ersten Blick den Eindruck, dass das Gebot eher eine einfache Handlung als ein emotionales Gebot ist. Um die Herangehensweise des Rambam zu verstehen, müssen wir uns eine weitere Regel in der Mischne Tora anschauen: »Es ist eine Mizwa für jedermann, jeden Einzelnen aus Israel zu lieben.«
Der Rambam schreibt also, dass wir verpflichtet sind, Liebe zu unserem Nächsten zu empfinden, und seine vorherige Erklärung des Gebots dient dazu, uns eine praktische Anwendung zu geben. Der Rambam betont, dass die gesamte Mizwa darin besteht, Liebe zum Nächsten auszudrücken und zum Wohle des anderen zu handeln.
GEFÜHL Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888) bietet eine etwas andere Erklärung an. Er argumentiert, dass es unmöglich ist, Liebe zu erzwingen, und dass dies nicht die Absicht der Tora sein kann.
Kann es sein, dass er den gleichen Gedanken wie Freud hatte? Rabbiner Hirsch war der Meinung, dass man das Gebot an sich zwar durchführen könne, wir aber nicht verpflichtet werden können, ein Gefühl von Liebe zu verspüren. Diese Gefühle sind besonders und sehr tiefgründig, und wir haben nicht genug Einfluss darauf, um sie einfach hervorzurufen.
Rabbiner Hirsch erklärt, dass wir stattdessen unsere Aufmerksamkeit auf alles richten sollten, was unsere Mitmenschen betrifft, und uns um ihr Wohlergehen kümmern. Es ist also kein Gebot, Liebe zu empfinden oder Zuneigung zu zeigen, sondern vielmehr ein Aufruf, dass wir uns verantwortlich für das Wohl unserer Mitmenschen fühlen und danach handeln.
Rabbiner Hirsch betont, dass es falsch ist, den Erfolg oder das Wohlergehen anderer als Hindernis oder das Scheitern anderer als eigenen Erfolg zu betrachten. Der spirituell und moralisch korrekte Mensch kümmert sich um das Wohlergehen anderer ebenso wie um das eigene.
Rav Abraham Kook (1865–1935) erweitert diese Interpretation und betont, dass das Gebot »we’ahavta lereacha kamocha« nicht nur auf Einzelpersonen, sondern auch auf Völker und Gruppen angewendet werden sollte. In seinem Buch Midot haReaya schreibt Rav Kook, dass die Liebe vollständig sein muss und jedem gegenüber gelten sollte.
ZUNEIGUNG Die Analyse verschiedener Interpretationen des Gebots »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« in der Tora zeigt uns, dass es mehrere Ansätze gibt, um dieses zentrale Gebot im täglichen Leben umzusetzen. Unabhängig von den Unterschieden in den Interpretationen betonen alle Gelehrten die Notwendigkeit, Mitgefühl für unsere Mitmenschen zu empfinden und uns um ihr Wohlergehen zu kümmern und somit auch ein Gefühl von Liebe und Zuneigung zu erzeugen.
Der Rambam stellt zusätzlich zum Empfinden von Liebe einen praktischen Ansatz dar, bei dem wir alles tun sollten, was wir uns auch von anderen wünschen, während Rabbiner Samson Raphael Hirsch darauf besteht, dass wir uns verantwortlich für das Wohl unserer Mitmenschen fühlen und danach handeln sollten. Rav Kook erweitert den Anwendungsbereich des Gebots und fordert eine universelle Liebe, die jedem gegenüber gelten sollte.
Die Fragestellung, wie sich das Gebot »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« nach verschiedenen Interpretationen verstehen und praktisch umsetzen lässt, führt uns zu dem Schluss, dass es mehrere Wege gibt, dieses Gebot zu befolgen.
interpretationen Trotz verschiedener Interpretationen betonen unsere Weisen jedoch alle, dass wir eine absolute Verpflichtung haben, uns an dieses Gebot zu halten. Und mehr noch: Sie legen uns mit verschiedensten Auslegungen der Ausführung auch das Vertrauen in den Schoß, dass ein jeder von uns in der Lage ist, dieses Gebot der Nächstenliebe auszuführen. Die gemeinsame Basis aller Ansätze ist die Anerkennung der Verantwortung, die wir für das Wohl unserer Mitmenschen tragen. Indem wir diese Werte leben, können wir nicht nur unsere Gemeinschaft stärken, sondern auch eine tiefere Verbindung zu unseren Mitmenschen und letztendlich zu G’tt selbst herstellen.
Diese Erkenntnis kann uns dazu inspirieren, in unserem täglichen Leben entsprechend zu handeln und somit zu einer gerechteren und friedlicheren Welt beizutragen.
Der Autor studiert am Rabbinerseminar zu Berlin.
inhalt
Der Wochenabschnitt Acharej Mot beginnt mit Anordnungen zu Jom Kippur und beschreibt, dass es für den Hohepriester gefährlich war, das Allerheiligste zu betreten. Denn eine zu große Nähe zum Göttlichen barg Gefahren in sich. Im 3. Buch Mose 17 beginnt das Heiligkeitsgesetz. Darin werden weitere Opfergesetze und Speisevorschriften übergeben, wie etwa das Verbot des Blutgenusses und das Verbot des Verzehrs von Aas. Den Abschluss bilden das Thema verbotener Ehen wegen zu naher Verwandtschaft sowie Regelungen zu verbotenen sexuellen Beziehungen.
3. Buch Mose 16,1 – 18,30
Der Wochenabschnitt Kedoschim ist der zentrale Teil des Buches Wajikra. Er enthält Anweisungen für das gesamte Volk Israel, heilig zu sein in Gedanken, Worten und Taten. Der Höhepunkt dieses Abschnitts ist der Satz »Liebe deinen Nächsten so, wie du dich selbst liebst«. Unter anderem wird gefordert: Respekt vor den Eltern, die Einhaltung des Schabbats, Ecken der Felder für Arme übrig zu lassen, nicht zu stehlen, Gerechtigkeit walten zu lassen, keine verbotenen sexuellen Beziehungen einzugehen und mit Maßen und Gewichten ehrlich umzugehen.
3. Buch Mose 19,1 – 20,27