Der Wochenabschnitt Toldot beginnt mit der Beschreibung der Kinder Jitzchaks und endet damit, wie der alte Vater seine Söhne Jakow und Esaw segnet. Die beiden sind Zwillinge. Als Erster kommt Esaw zur Welt, danach Jakow. Der aber hängt sich an dessen Füße, als wolle er der Erste sein. Unsere Weisen vermuten, dass der folgenreiche Bruderzwist bereits im Mutterleib begann und bis in die Gegenwart andauert.
Während Esaw, der Jäger, sich vorrangig für sein Vergnügen interessiert, lernt sein jüngerer Bruder in der Jeschiwa von Schem und Ever in Hebron, um ewige Spiritualität zu erlangen. Es ist wahr, dass Jakow versucht, in seinem spirituellen Bestreben das Recht für den Segen des Erstgeborenen zu erhalten. Und es steht auch geschrieben, dass sein Bruder Esaw das ihm selbst zustehende Recht für ein Linsengericht verkauft. In biblischen Zeiten galt der Erstgeborene als alleiniger Erbe seines Vaters und gleichzeitig als spiritueller Führer der Familie. Während Esaw auf dieses äußerst wertvolle Recht verzichtet, betrachtet Jakow diesen Segen als Gewinn für die Zukunft, um so das Ziel der mit G’tt verbundenen Eltern für die Ewigkeit zu bewahren und zu festigen.
»Es scheint, als ob ein Myrtenbaum neben einem Dornenstrauch wächst«, heißt es im Midrasch über die miteinander aufwachsenden Söhne Jitzchaks. Ein aufschlussreiches Bild: Nach beendeter Phase des Wachstums übergibt die Myrte ihren Duft und der Dornenbusch seine Dornen an die Welt.
So ähnlich verhält es sich mit Esaw und Jakow, die 13 Jahre gemeinsam den Weg zur Schule und zurück nach Hause gehen. Der eine setzt seine Bildung fort, der andere verschreibt sich dem Götzendienst. Jakow, der Zweitgeborene, strebt nach geistiger Vollkommenheit. Esaw will die Tora auf profane Weise beherrschen.
Unsere Weisen haben stets Kritik an den Schwächen unserer Vorfahren geübt. Diese hatten dieselbe Tora und waren somit verpflichtet, auch die gleiche Erziehung an ihre Kinder weiterzugeben. Dabei wurde allerdings ein wichtiger Aspekt vernachlässigt: »Chanoch la naar al pi darko«.
Dies bedeutet: Die Erziehung eines Kindes sollte dessen Charakter, Fähigkeiten und Neigungen angepasst werden.
Klar ist, dass jede jüdische Erziehung Glauben, Heiligung und Reinheit zum Ziel hat. In diesem Prozess müssen wir unseren Kindern helfen, ihren Weg zu suchen und zu finden. Nicht jeder besitzt das Talent zum Besuch einer Jeschiwa. Aber jedes Kind hat Fähigkeiten, die gefördert werden müssen. Wichtig ist dabei, G’ttes vorgeschriebene Wege zu befolgen und sich um Gerechtigkeit und Zedaka zu bemühen. Dieses Streben lässt sich auch bei mangelnder Eignung eines Menschen durch Inanspruchnahme fachlicher Unterstützung verwirklichen.
Gesamtbild Als Jakow kurz vor seinem Tod seine Kinder zu sich ruft, um sie zu segnen, sieht er in ihnen die künftigen Stämme Israels. Er sieht vor sich den Stamm Levi als Stamm der Priester, dann den Stamm des Königreiches, den Stamm der Händler und Geschäftsleute, den Stamm der Bauern und den der Soldaten. Und so erscheint vor seinem geistigen Auge ein Gesamtbild des Volkes Israel, das alle Fähigkeiten in sich vereint. Jeden segnet er, entsprechend seiner für die Zukunft zugedachten Rolle. Warum? Damit der Bund, den Awraham mit G’tt geschlossen hat, auch als Bund im Volk Israel weiterlebt. Das Ziel war, dass im Volk nicht nur der Stand der Priester vertreten sein, sondern sich die für alle Lebensbereiche wichtigen Berufsgruppen entwickeln sollten.
Nicht jeder eignet sich für das Lernen, um ein Priester für G’tt zu werden. Und: Das Volk benötigt auch Bauern, Händler, Arbeiter und auch Soldaten zur Kriegsführung. Wenn also Esaw die Jagd liebt, dann sollte man ihn auch in dieser Richtung erziehen und ausbilden.
Hintergehen Die Naivität des Vaters am Ende seiner Tage erkennt man daran, dass er den Sohn Jakow an Esaws Stelle segnet. Jitzchak, der Held der Akeda, verhält sich sein ganzes Leben lang gerecht, gerade gegenüber G’tt. Er verlässt sein Land nie, sondern bleibt in Kanaan, so wie ihm G’tt befohlen hat. Die Gutgläubigkeit des Vaters kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass er sich von seinem Sohn Esaw hintergehen lässt.
Der blinde Vater kann einfach nicht glauben, dass ihn sein Liebling, der Erstgeborene, betrügen könnte. Er ist davon überzeugt, dass Esaw ein Zaddik ist. Und so entscheidet er, die Segnungen, die G’tt Awraham gab, auf Esaw zu übertragen. Er bittet ihn, dass er ihm sein Lieblingsmahl zubereite, um ihn danach, kurz vor seinem Tod, zu segnen.
Jakow wendet eine List an, um den Segen des Erstgeborenen zu erlangen. Er und seine Mutter Riwka sehen in Esaw nicht die geeignete und würdige Persönlichkeit, um das Volk Israel in der Zukunft zu repräsentieren. Völlig unbewusst hat Esaw selbst zum Gelingen des listigen Plans beigetragen. Er fordert keine gebührende Gegenleistung, sondern verschenkt das wertvolle Gut des Erstgeburtsrechts für einen Teller Linsen – eine einfache Speise, die damals nur Bauern und Jäger aßen. Esaw hat den Segen also nicht etwa verkauft, um seinen Hunger zu stillen, sondern er hat den Wert des Segens einfach nicht erkannt.
Und der alte Vater Jitzchak hat wiederum den verdorbenen Charakter und die Heuchelei des Sohnes verkannt. Die Mutter Riwka hingegen, die in einem Haus von Betrügern aufwuchs (ihr Bruder Laban wird in der Tora als Symbol für Lüge und Diebstahl geschildert), durchschaut den Charakter ihres Sohnes Esaw. Das Beispiel Riwkas lehrt uns auch, dass man sich nicht mit Verbrechern abfinden darf. Nur will Riwka ihren alten Mann vor der schmerzlichen Wahrheit verschonen. Deshalb greift sie zur List und nicht zur Lüge.
Dilemma »Anoche Esaw bechorecha« – »Ich bin dein Sohn Esaw, der Erstgeborene«, sagt Jakow seinem Vater. Nach Auffassung unserer Weisen umfasst diese Mitteilung zwei Teile: anochi – so wie ich bin; Esaw – dein Erstgeborener. Das soll heißen: »Ich bin der Erstgeborene, denn ich habe den Segen des Erstgeborenen von meinem Bruder Esaw gekauft.« Jakow will also sagen: Ich bin tatsächlich derjenige, an den du deinen Segen geben willst.
Unsere Weisen nehmen Jitzchak in Schutz, weil er naiv und ehrlich war. Trotzdem hätte er ihrer Meinung nach zu G’tt beten und Ihn um ein Zeichen bitten müssen, welchen der beiden Söhne er segnen soll. Diese Aussage stellt uns in der heutigen Bewertung vor ein Dilemma. Die Tora berichtet: Als Esaw 40 Jahre alt war, heiratete er Jehudit, die Tochter Beeris, des Hethiters, und Basemath, die Tochter Elons, des Hethiters« (1. Buch Moses 26,34), beide also aus dem Volk der Hethiter. Diese Wahl findet nicht die Billigung von Jitzchak und Riwka. Weiß vielleicht Jitzchak über die Verhältnisse seines Sohnes Esaw zu dem verhassten Volk Bescheid? Will er ihn, aus väterlicher Liebe, trotzdem segnen? Und wenn er dessen schlechten Charakter kennt, warum entscheidet er sich, den Segen des Erstgeborenen seinem Sohn Jakow zu entziehen? »Soll er den Segen verlieren, weil er kein Frevler ist?« Eine zwiespältige Frage.
Wenn wir beide Segnungen vergleichen, nämlich den Segen, den Jakow erhält, als Jitzchak meinte, Esaw vor sich zu haben (und vor allem, wenn er weiß, dass dieser doch Jakow ist), wird doch ein Unterschied zum Segen Esaws offenbar: »Und er segnete ihn und sprach: Siehe, der Duft meines Sohnes ist wie der Duft eines Feldes, das der Ewige gesegnet. So gebe dir G’tt vom Tau des Himmels. Und von der Erde fetten Triften und Korn und Most in Fülle!« (1. Buch Mose 27, 27-28). Später sagt er: »Der allmächtige G’tt segne dich, mache dich fruchtbar und mehre dich, dass du zu einer Menge von Völkern werdest, und er gebe dir Awrahams Segen, dir und deinen Nachkommen mit dir, dass du das Land deines Aufenthaltes in Besitz nimmst, das G’tt Awraham gegeben hat« (28, 3-4).
Als Jitzchak weiß, dass Jakow den Segen trägt, gibt er ihm den zweiten Segen. Wir ersehen aus beiden Segnungen den großen Unterschied: Der eine, Esaw, schöpft daraus Fett und Sättigung, also eine gesunde Wirtschaft und irdischen Reichtum. Für Jakow aber bedeutet die Übertragung des väterlichen Segens geistliche Verpflichtung für das Volk Israel.
Dem durch vermeintlich leichte List ergatterten Segen folgen lange Jahre der Flucht und schwere Prüfungen des Exils. Erst durch die eigene Tat erweist sich Jakow schließlich als würdiger Erbe Awrahams und Jitzchaks.
Der Autor ist Landesrabbiner von Sachsen.
Inhalt
Der Wochenabschnitt Toldot erzählt von der Geburt der Zwillinge Esaw und Jakow. Für ein »rotes Gericht« erkauft Jakow von Esaw das Erstgeburtsrecht. Wegen einer Hungersnot muss Jitzchak das Land verlassen. Er geht zu Awimelech, dem König von Gerar. Dort gibt er seine Frau Riwka als Schwester aus, weil er um sein Leben fürchtet. Als Jitzchak im Sterben liegt, will er Esaw segnen, doch er wird von Riwka und Jakow getäuscht und segnet so Jakow. Der muss danach vor seinem Bruder Esaw flüchten und geht nach Haran.
1. Buch Moses 25,19 – 28,9