Feiern

Fünfte Jahreszeit auch für Juden?

Alleine jeck: Juden bei einer Purimfeier in Offenbach Foto: Rafael Herlich

Eigentlich haben das jüdische Purimfest und der katholische Karneval wenig gemeinsam. Purim ist ein religiöses Fest auf biblischer Grundlage: Eine Minderheit feiert ihr Überleben, nachdem sie von einer Mehrheit tödlich bedroht wurde. Karneval dagegen ist »Partytime« einer Mehrheitsgesellschaft und eine Art Verabschiedung von der Normalität. Danach folgt eine spirituelle Vorbereitung während der Fastenzeit auf Ostern. Ob sich die meisten Menschen, die im Rheinland, in Bayern und jetzt sogar in Berlin Karneval feiern, an die Bußregeln halten, wage ich allerdings zu bezweifeln.

Man könnte es so formulieren: Christen begehen eine 40-tägige Omerzeit vor Ostern, Juden ihre 49-tägige Omerzeit nach Pessach. Beiden gemeinsam ist ein Gefühl, dass für eine bestimmte Zeit alles auf den Kopf gestellt werden kann. Im Karneval wird gesungen und gesoffen, Bonbons und Bonmots werden genossen, fast alle Klei­derregeln werden ignoriert, man verspottet die Mächtigen und erhebt die Schwachen, und alle genießen kathartischen Spaß.

Suff Obwohl Purim hauptsächlich in der Synagoge gefeiert wird, gab und gibt es auch an diesem jüdischen Feiertag karnevalsähnliche Festumzüge – hauptsächlich in Israel. Die meisten jüdischen Gemeinden in der Diaspora sind, teilweise wegen »späterer Hamans«, einfach zu klein dafür. Ein Festumzug durch die Stadt mit einem halben Minjan wäre nicht feierlich und auch dann peinlich, wenn alle betrunken sind.

Falls jemand Sie fragen sollte, wie Sie Purim gefeiert haben, sollten Sie, statt ausführlich über Hamantaschen, Masken und die Megilla zu sprechen, einfach nur antworten: »Es tut mir leid, ich kann mich nicht erinnern – ich war total besoffen.« »Ad lo jada« (»bis man nicht mehr unterscheiden kann«) ist ernst zu nehmen: Es geht um einen Sieg des Guten über das Böse.

Peinlich finde ich nur, wie man in Deutschland den Frohsinn monatelang vorher planen, vorbereiten und genehmigen muss.

Peinlich finde ich nur, wie man in Deutschland den Frohsinn monatelang vorher planen, vorbereiten und genehmigen muss. Karnevalsvereine müssen Strukturen, Spendenkonten, Vorstände und Satzungen haben; Umzugswagen werden geplant, gebaut, geschmückt und zugelassen. Spaß allein ist nicht genug, es muss immer eine Botschaft geben! An Karneval werden Bürger sozusagen verpflichtet, wie Idioten geschminkt und gekleidet durch die Straßen ihrer Städte zu laufen, zu tanzen und zu singen – und das heißt dann »Spontaneität«.

Pappmaschee Wie die Christen, so die Juden: Auch am katholischen Karneval im Rheinland nehmen wir nun teil – zusammen mit anderen »Häretikern« wie Protestanten und Muslimen. An diesem Tag sind alle gleich! Auf einem Wagen werden in Düsseldorf eine Pfarrerin, ein Rabbiner und ein Imam aus Pappmaschee gemeinsam stehen und den feuchtfröhlichen Zuschauern und Teilnehmern zuwinken. Interessante Frage: Warum nicht ein Pastor und eine Rabbinerin und eine Imamin? Oder wäre das zu »jeck«?

Na ja, vielleicht nächstes Jahr. Für die Muslime wird es jedenfalls alkoholfreies Bier geben, für die Juden wahrscheinlich koschere Bonbons, und die Christen genießen das gute Gefühl, gleichzeitig neben der Kappe und total tolerant zu sein. Wie üblich ist es immer einfacher, Religion zu genießen, wenn man nicht zu tief in die Texte und die Geschichte schaut. Am Ende der Fastenzeit kommt nämlich Ostern, und bei dieser Gelegenheit sagte man früher »Hep! Hep!« statt »Jeck! Jeck!«.

Eine Religion, die einen Ex­tramonat Adar in den Kalender einschiebt, kann nicht über andere meckern, die eine fünfte Jahreszeit geschaffen haben.

Sollten Rabbiner die gemeinsame Teilnahme am Karneval als Zeichen der judenrheinischen Integration willkommen heißen? Ist das Assimilation an die Mehrheitskultur, interreligiöse Toleranz oder nur »Partytime?« Ich persönlich finde Spaß wichtig und genieße ihn. Ich bin nicht dagegen. Aber wenn Leute sagen: »Purim ist wie Karneval«, dann blendet das sehr viel aus. An Purim geht es um Leben und Tod der Juden, nicht um den Tod und das (Weiter-)Leben eines Messias.

Schön ist es, wenn Leute auf die Straße gehen, nicht nur, um eine Fußballmannschaft zu feiern oder gegen die Regierung zu protestieren oder gegen Asylsuchende, sondern nur, um gemeinsam Spaß zu haben. An Purim und an Karneval darf man alle Regeln brechen. Ich persönlich finde: Eine Religion, die einen Ex­tramonat Adar in den Kalender einschiebt, kann nicht über andere meckern, die eine fünfte Jahreszeit geschaffen haben. Der Karneval wird kommen und vergehen – und bald werden wir auf der Suche nach pessachdicken Schokoladenhasen sein. Auch die Jeckes.

Der Autor ist assoziierter Rabbiner der liberalen jüdischen Gemeinde Hamburg.

Wittenberg

Judaistin kuratiert Bildungsort zur Schmähplastik

Die Darstellung der sogenannten »Judensau« an der Wittenberger Stadtkirche, der früheren Predigtkirche des Reformators Martin Luther (1483-1546), gehört in Deutschland zu den bekanntesten antisemitischen Darstellungen des Mittelalters

 02.11.2025

Lech Lecha

Im Sinne der Gerechtigkeit

Awraham war der Erste in der Menschheitsgeschichte, der gegen das Böse aufstand

von Rabbiner Salomon Almekias-Siegl  31.10.2025

Talmudisches

Audienz beim König aller Könige

Was unsere Weisen über das Gebet und seine Bedeutung lehren

von Rabbiner Avraham Radbil  31.10.2025

Geschichte

Wer war Kyros der Große?

Manche behaupten, Donald Trump sei wie der persische Herrscher, der den Juden die Rückkehr nach Jerusalem erlaubte. Was hinter dem Vergleich steckt

von Rabbiner Raphael Evers  30.10.2025

Interview

»Süßes gibt’s auch in der Synagoge«

Jugendrabbiner Samuel Kantorovych über Halloween, dunkle Mächte und Hexen im Talmud

von Mascha Malburg  30.10.2025

Vatikan

Papst bedauert Krise im Dialog mit Juden - verurteilt Antisemitismus

Seit Jahren ist der Dialog des Vatikans mit dem Judentum belastet. Nun hat Leo XIV. versucht, die Dinge klarzustellen - mit einem Bekenntnis zum Dialog und gegen den Antisemitismus

von Ludwig Ring-Eifel  29.10.2025

Schwielowsee

Shlomo Afanasev ist erster orthodoxer Militärrabbiner für Berlin und Brandenburg

Militärrabbiner gibt es bereits in Deutschland. Nun steigt der erste orthodoxe Rabbiner bei der Bundeswehr in Brandenburg ein

 29.10.2025

Rom

Eklat durch NS-Vergleich bei interreligiösem Kongress

Der Dialog zwischen katholischer Kirche und Judentum ist heikel. Wie schwierig das Gespräch sein kann, wurde jetzt bei einem Kongress in Rom schlagartig deutlich. Jüdische Vertreter sprachen von einem Tiefpunkt

von Ludwig Ring-Eifel  27.10.2025

Talmudisches

Das Schicksal der Berurja

Die rätselhafte Geschichte einer Frau zwischen Märtyrertum und Missverständnis

von Yizhak Ahren  24.10.2025