Herr Rabbiner Engelmayer, Sie waren Ende November bei einem Kongress des Bundesverbandes Jüdischer Mediziner zum Thema »Glücklich bis zum letzten Atemzug«. Wie ist das Thema Sterbehilfe diskutiert worden?
Ich war mir zuerst nicht sicher, ob ich als Rabbiner mit meiner Haltung unter den Ärzten Anklang finde. Aber es gab dort sehr viele, die gegen die aktive Sterbehilfe Position bezogen haben und sagten, dass es nicht im jüdischen Sinn sein kann, Leben aktiv zu beenden.
Wie gehen Sie als Rabbiner mit sterbenden Menschen um?
Da gibt es sehr unterschiedliche Situationen. Manchmal muss man den Menschen Kraft geben und Zeremonien besprechen – ich erkläre den Kranken, dass ich für ihre Gesundung bete. Manchmal sind die Patienten schon bewusstlos. In jedem Fall kümmere ich mich auch um die Angehörigen.
Haben Ihnen Menschen schon erzählt, sie wollen nicht mehr leben?
Ja, das kam schon vor, und es hatte nicht unbedingt mit ihrem physischen Zustand zu tun. Meine erste Aufgabe besteht darin, den Menschen das Gefühl zu geben, dass sie nicht alleine sind, und dass man ihnen einen Teil ihrer Last nimmt. Und dann führe ich auch lange Gespräche, um zu zeigen, dass das Leben auf jeden Fall noch Sinn macht.
Ein alter Mensch, der unerträgliche chronische Schmerzen hat, deprimiert ist oder einsam – wie wollen Sie ihm klarmachen, dass sich das Leben noch lohnt?
Manchmal sind die Herausforderungen des Lebens so groß, dass man nicht mehr weiß, woher man die Kraft nehmen soll. Aber das ist das Gute an einer Religionsgemeinschaft, und ganz bestimmt an der jüdischen Gemeinschaft, dass wir uns dieses Problems gemeinsam annehmen. In unserer Gemeinde in Köln haben wir Bikkur Cholim eingerichtet – Studenten, aber auch ältere Leute unterstützen Alleinstehende, zum Beispiel am Wochenende im Elternheim.
Im Judentum soll man den Sterbeprozess nicht künstlich verlängern, aber das Leben erhalten. Kann das ein Widerspruch sein?
Viele Fälle sind sehr vielschichtig. Bestimmte lebenserhaltende Grundlagen sollen dem Menschen nicht entzogen werden, wie die Zufuhr von Sauerstoff, Grundnahrung oder Flüssigkeit. Das käme einer aktiven Lebensverkürzung gleich. Es gibt aber Situationen, in denen diese Regeln in Absprache mit einem Rabbiner aufgehoben werden können oder sogar sollen; eine solche kann etwa in der Endphase des Sterbeprozesses entstehen.
Was halten Sie von Patientenverfügungen?
In Absprache mit einem Rabbiner und im halachischen Sinn können sie durchaus abgefasst werden.
Voraussichtlich 2015 wird der Bundestag eine Entscheidung zur Sterbehilfe fällen. Warum, glauben Sie, ist das Thema in Deutschland und in Europa so akut?
Das hat sicherlich mit der Überalterung der Gesellschaft zu tun – aber auch damit, dass säkulare und religiöse Haltungen stark auseinanderklaffen. Die Frage ist, ob Selbstbestimmung über dem objektiv schützenswerten Leben stehen soll – oder nicht.
Mit dem Rabbiner der Synagogen-Gemeinde Köln sprach Ayala Goldmann.
Jaron Engelmayer ist Rabbiner der Synagogen-Gemeinde Köln.