Vergangene Zeiten werden in der Retrospektive häufig positiver gezeichnet, als sie tatsächlich gewesen sind. »Die Jugend von heute« ist vielleicht gar nicht so schlimm, und die »guten, alten Zeiten« waren möglicherweise gar nicht so gut.
Ein Beispiel hierfür findet sich im Wochenabschnitt Beha’alotcha. Wir lesen davon, dass die Israeliten den Zeiten in Ägypten nachtrauern. Es heißt: »Die Israeliten fingen an zu weinen und sprachen: Wenn uns doch jemand Fleisch zu essen gäbe! Wir denken noch an die Fische, die wir in Ägypten umsonst gegessen haben, die Gurken, Melonen, Lauch, Zwiebeln und Knoblauch. Jetzt müssen wir darben und an allem Mangel leiden.«
PLAGEN Wie kommt es dazu, dass die Israeliten plötzlich so positiv über die Zeiten in Ägypten denken? Schließlich heißt es von den versklavten Israeliten, dass sie »unter der Arbeit seufzten. Sie schrien« (2. Buch Mose 2,23). Um die Israeliten aus Ägypten zu befreien, hatte Gott einen großen Aufwand betrieben. Erinnert sei an die zehn Plagen und die Spaltung des Schilfmeers.
Aber bereits kurz nach dem Durchschreiten des Schilfmeers klagten die Israeliten: »Es murrte das Volk über Mosche und sprach: Was sollen wir trinken?« (15,24). Das Klagen, so scheint es zumindest, ist den Israeliten ein treuer Begleiter während der Wüstenwanderung. Dass Gott durch das Manna, das es täglich außer am Schabbat gibt, für die Nahrung der Israeliten sorgt, beruhigt die Israeliten nur kurzzeitig.
Der einstige Oberrabbiner von Großbritannien, Joseph Herman Hertz (1872–1946), schreibt in seinem Torakommentar, dass das Volk murrte oder klagte, anstatt sein Ungemach mit festem Gottvertrauen zu tragen. An ebenjenem Gottvertrauen scheint es noch zu mangeln.
Die Israeliten schreien in diesem Wochenabschnitt nach Fleisch und nennen Lebensmittel, die sie angeblich in Ägypten erhalten haben: Fisch, Gurken, Melonen, Lauch, Zwiebeln und Knoblauch. Nach einem sucht man aber vergeblich in dieser Auflistung: nach Fleisch!
Die Israeliten wollen also etwas, das sie vorher offenbar nicht gehabt haben. Der Torakommentar von Raschi (1040–1105) geht noch weiter und fragt: »Hatten die Israeliten in der Wüste wirklich kein Fleisch?« Er verweist auf 2. Buch Mose 12,38. Dort heißt es, dass die Israeliten mit Herden von Schafen und Rindern aus Ägypten ausgezogen sind.
Wo waren diese geblieben? Als die Israeliten im versprochenen Land einziehen, heißt es: »Eure Frauen, eure Kinder und eure Herden sollen bleiben in dem Land, das euch Mosche gegeben hat« (Jehoschua 1,14). So lässt sich festhalten, dass es Herden beim Auszug aus Ägypten und auch 40 Jahre später, beim Einzug ins versprochene Land, gab.
VORWAND Raschi kommt zu dem Schluss: »Die Israeliten klagten um Fleisch, weil sie nach einem Vorwand suchten.« Betrachtet man das Zitat vom Beginn, so fällt auf, dass dort steht: »Wir denken noch an die Fische, die wir in Ägypten umsonst gegessen haben.«
Die versklavten Israeliten sollen in Ägypten umsonst gegessen haben? Raschi weist darauf hin, dass die Israeliten in Ägypten noch nicht einmal Stroh umsonst bekommen hätten (vgl. 2. Buch Mose 5,18), daher wäre es unlogisch anzunehmen, dass sie Fisch und andere Lebensmittel umsonst bekommen hätten.
Daher fragt sich Raschi: »Was heißt umsonst?« Er antwortet: »Frei von Geboten.« Raschis Interpretation erklärt vieles. Sie erklärt, weshalb die Israeliten den »guten, alten Tagen« in Ägypten nachtrauern. Schließlich mussten sie dort zwar Sklavenarbeit verrichten, waren aber frei von den 613 Geboten.
Tatsächlich war die Nahrung abhängig vom Einhalten dieser Gebote, wie es heißt: »Werdet ihr meinen Geboten gehorchen, die ich euch jetzt gebe, um den Ewigen, euren Gott, von eurem ganzen Herzen und von eurer ganzen Seele zu lieben und zu dienen, (…) so will ich für dein Vieh Gras wachsen lassen auf deinem Feld, auf dass du zu essen haben wirst im Überfluss« (5. Buch Mose 11, 13–15).
Die Gebote überfordern die Israeliten offenbar, sodass sie all das Leid, das sie in Ägypten erlitten haben, zu vergessen scheinen. Das mag auch ein Grund dafür sein, dass erst eine ganze Generation sterben musste, bevor die Israeliten das versprochene Land betreten durften. Dass es einer neuen Generation bedurfte, die schon mit den Geboten aufgewachsen war. Eine Generation, die ein Leben ohne diese Gebote nicht mehr kannte und verstand, was Gott für Wunder vollbracht hatte.
GESETZGEBUNG Vor Kurzem haben wir Schawuot gefeiert, »das Fest der Wochen, die Zeit unserer Gesetzgebung« (»s’man matan toratenu«). Ein Midrasch hinterfragt: Warum heißt Schawuot nicht »das Fest des Empfangs und der Annahme unserer Tora (»s’man kabbalat toratenu«)? Der Midrasch hält fest, dass es mehr als 1000 Jahre gedauert hat, bis das jüdische Volk die Tora tatsächlich angenommen hatte. Das war die Zeit von Mordechai und Esther, über die wir in der Megillat Esther an Purim lesen. Dort heißt es in Kapitel 9,23: »Die Juden nahmen auf sich, was sie schon zu tun angefangen.« Was nahmen die Juden auf sich? Der Midrasch antwortet: »Die Tora.«
Der Prozess der Akzeptanz und der damit verbundenen Erfüllung der Gebote war und ist mit vielen Herausforderungen verbunden. Es ist ein Prozess, der niemals abgeschlossen ist, weil unsere Tora und ihre Gebote von Generation zu Generation weitergegeben werden. Jede Generation stellt neue Fragen, setzt eigene Schwerpunkte. Viele Gebote brauchen Erklärungen, die je nach geografischer oder familiärer Tradition und Strömung des Judentums unterschiedlich ausfallen können.
Wichtig ist, dass wir uns mit der Tora beschäftigen, dass wir ihre Interpretation nicht als abgeschlossenen Prozess betrachten, sondern als Prozess, der andauert. Denn es werden weiterhin neue Fragen entstehen, die mit den Errungenschaften der Technik und den Herausforderungen der Gegenwart zusammenhängen. Die Tora hält alle Antworten bereit. Wir müssen sie nur finden.
Der Autor ist Landesrabbiner von Thüringen und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).
inhalt
Der Wochenabschnitt Beha’alotcha beginnt mit den Vorschriften für den Leuchter im Stiftszelt. Danach bringt er weitere Vorschriften für die Leviten. Außerdem wird ein zweites Pessachfest für diejenigen eingeführt, die es im Monat Nissan nicht feiern konnten. Ferner wird geschildert, wie am Tag eine Wolke und nachts eine Feuersäule die Anwesenheit des Ewigen am Stiftszelt anzeigen. Immer wenn die Wolke sich vom Stiftszelt entfernte, setzten auch die Kinder Israels ihren Zug fort.
4. Buch Mose 8,1 – 12,16