G’ttesdienst

Frucht unserer Lippen

Morgengebet in der Synagoge Brunnenstraße in Berlin Foto: Marco Limberg

Das Gebet wie auch das Beten haben im Judentum eine lange und mannigfaltige Entwicklung im Laufe der Geschichte erfahren. Der wahre Sinn und Inhalt des Gebetes ist: »Awoda Sche’Balew«, ein Dienst im Herzen und mit dem Herzen. Bereits im »Kriat Sch’ma«, dem »Sch’ma Jisrael«-Gebet (5. Buch Mose 6,4), wird geboten, dem Herrn mit der ganzen Seele und von ganzem Herzen zu dienen. Diesen Dienst verinnerlichen wir heute im Gebet.

Die älteste Form des Dienstes an G’tt war die Darbringung der Opfer im Heiligtum. Dies war ein sakrales, g’ttgeweihtes Gemeinschaftserlebnis des gesamten Volkes. Das Darbringen der Opfer geschah aufgrund von exakten Regelungen, die in der Tora festgelegt waren. Sie beinhalteten sowohl die Opfer für den Alltag als auch für die Festtage.

Obwohl dieser Opferkult seit der Zerstörung des Zweiten Tempels in Jerusalem im Jahre 70 n.d.Z. nicht mehr existiert, bilden die Anordnung und die Form der ehemaligen Opfergaben die Grundlage unserer heutigen Liturgie beziehungsweise unserer Gebetsordnung.

schrittweise Der Übergang vom Tempeldienst in Jerusalem in die neue Form des regelmäßigen Gebetes in verschiedenen Gemeinschaftszentren erfolgte sukzessive. Eine Legende berichtet uns darüber, dass die erste Gebetsstätte in Form einer Synagoge nach der Zerstörung des ersten Bet Hamikdasch, des jüdischen Tempels in Jerusalem, durch die Babylonier im Jahr 586 v.d.Z. erbaut wurde.

Die aus dem jüdischen Land vertriebenen Israeliten brachten Steine des zerstörten Tempels mit nach Babylonien und errichteten dort ein besonderes Haus, das ihr erstes Bethaus wurde. Nach Ende des babylonischen Exils existierten im dritten und zweiten Jahrhundert v.d.Z., zur Zeit des Bajit Scheni, des Zweiten Tempels, auch Bethäuser neben dem Jerusalemer Heiligtum, wo Opfer nach klassischer Art dargebracht wurden.

Jedoch war die gleichzeitige Existenz dieser beiden sakralen Formen des G’ttesdienstes nicht von langer Dauer, weil mit der Zerstörung des Zweiten Tempels der Opferkult endgültig aufgehört hat. Seit jener Zeit begleitete das Gebet das Leben unseres Volkes und gewann dabei immer mehr an Gewicht, gemäß der Interpretation der prophetischen Worte von Hosea (8. Jahrhundert v.d.Z.: »Nehmt diese Worte mit euch und bekehrt euch zum Herrn und sprecht zu ihm: ›Vergib die ganze Schuld! Und nimm Gutes an, so dass wir statt Opfertieren (die Frucht) unsere(r) Lippen darbringen‹« (Hosea 14,3).

Unsere Exegeten sahen in diesem Satz die Aussage, dass die verbindlichen Opfergebote der Tora nunmehr durch die Worte unserer Lippen ersetzt werden sollen. Die bisherigen Opfer dienten dazu, die Kinder Israels dem himmlischen Vater näherzubringen. Das hebräische Wort »Korban«, »Opfer«, stammt aus dem Verb »lekarew«, »näherbringen«. Als die Tempelopfer aufhörten, übernahmen die Gebete deren Rolle. So wie die Opfer ist es ihr Ziel, eine engere Beziehung zwischen G’tt und seinem Volk herzustellen.

Diskussion In der Zeit nach der Tempelzerstörung wurden die Inhalte, das Wesen und der Ursprung der Gebete konkretisiert. Der babylonische Talmud befasst sich in einer Diskussion mit der Frage, ob die Erzväter oder die Rabbinen die täglichen, festgesetzten Gebete eingeführt hätten (Berachot 26b).

Dazu werden die Lehren zweier talmudischer Meister angeführt: Rabbi Josse lehrte im Namen Rabbi Chaninas, dass das Morgengebet auf den Erzvater Abraham zurückzuführen sei. Die Begründung dafür sieht er im folgenden Toravers: »Abraham aber stand in der Frühe auf und machte sich an den Ort, da er gestanden vor dem Herrn ...« (1. Buch Mose 19,27). Rabbi Josse meint, dass das Wort »stand« so viel bedeutet wie »betete«.

Das Nachmittagsgebet, so meint Rabbi Josse, wurde durch den Erzvater Jizchak begründet: »Und Jizchak ging aus, um auf dem Felde zu sinnen beim Anbruch des Abends …«(1. Buch Mose 24,63).

Hier meint der Gelehrte, dass das Wort »sinnen« mit »beten« gleichzusetzen ist. Das Abendgebet wiederum führt Rabbi Josse auf den Erzvater Jakob zurück: »Und er gelangte an einen Ort (wajifga bamakom) und übernachtete daselbst; denn die Sonne war untergegangen…« (1. Buch Mose 28,11). Das Wort »gelangte«, »wajifga«, bedeutet auch »betete«.

festlegung Rabbi Jehoschua ben Levi dagegen meinte, dass die Gebete von den Rabbinen eingerichtet wurden, weil sie es waren, die bestimmten, dass zum Beispiel das Morgengebet bis mittags gesprochen werden darf und das Nachmittagsgebet bis zum Abend.

Für das Abendgebet aber haben die Rabbinen keinen festgesetzten Zeitpunkt angeordnet. Es kann daher auch im Laufe der gesamten Nacht, so lange es dunkel ist, noch gesprochen werden.

Der früher bekannte jüdische Volkskundler J. Bergmann wertet die Wurzeln der klassischen jüdischen Gebete zutreffend: »In der Berufung auf G’ttes frühere Taten und Gnadenbeweise offenbart sich das historische Element der jüdischen Frömmigkeit.«

Ein Musterbeispiel für diese Gebetsweise ist Esras Gebet nach der Rückkehr aus der babylonischen Verbannung. Es beginnt mit der Erinnerung an die Weltschöpfung und durchläuft die ganze Geschichte Israels« (»Gebet und Zauberspruch«, 1930, S. 458).

Gebetsreise So dankt Esra für die Erschaffung der Welt: »Herr, Du bist’s allein, Du hast gemacht den Himmel und aller Himmel Himmel mit allem ihrem Heer, die Erde und alles, was darauf ist, die Meere und alles, was darin ist; Du machst alles lebendig, und das himmlische Heer betet Dich an …« (Nechemia 9, 6ff).

Fortgesetzt wird die »Gebetsreise« mit der Erwähnung des Bundes: »Du bist der Herr, G’tt, der Du Abram erwählt hast und ihn von Ur in Chaldäa ausgeführt und Abraham genannt … und einen Bund mit ihm gemacht …«, um dann einen Bogen zum Auszug aus Ägypten und der Gabe der Tora zu schlagen: »Und Du hast angesehen das Elend unsrer Väter in Ägypten und ihr Schreien erhört ... Und bist herabgestiegen auf den Berg Sinai … und gegeben ein wahrhaftiges Recht und ein rechtes Gesetz und gute Gebote und Sitten …«

Auch der Dank für die Nachkommen und das versprochene Land darf nicht fehlen: »Und vermehrtest ihre Kinder wie die Sterne am Himmel und brachtest sie in das Land, das Du ihren Vätern verheißen hattest …« (Nechemia 9,23).

Bis zum Ende der biblischen Zeit (circa 1. Jahrhundert v.d.Z. waren die Texte der Gebete nicht festgelegt. Allgemein war man auch gegen das Niederschreiben von Gebeten, außer dem Text des »Sch’ma Jisrael«, weil das Gebet als »Dienst des Herzens«, als «Awoda Sche’Balew«, eine individuelle Bekundung darstellt.

individuell Die meisten Formulierungen wurden dem einzelnen Beter überlassen. Wir gehen davon aus, dass diese zu jeder Zeit und in jeglicher Form von G’tt erhört werden können. Dies scheint der Toravers zu unterstützen: »An jedem Ort, an dem Ich dich Meinen Namen anrufen lasse, will Ich Mich einfinden und dich segnen« (2. Buch Mose 20,24). Dennoch legten die Männer des Großen Sanhedrin in der Zeit von Esra und Nechemia (5./4. Jahrhundert v.d.Z.) die Texte des Achtzehngebetes fest.

Das Achtzehngebet, »Schmone Esre« oder »Amida« (stehend), wird so genannt, weil es immer im Stehen gesprochen wird. Die »Amida« beinhaltet 18 Segenssprüche, die die Wünsche und Bedürfnisse der jüdischen Menschen zusammenfassen.

Erst einige Jahrhunderte später wurden die Gebete formell festgehalten. Bis zum Mittelalter waren dann fast alle Texte der Gebete in Handschriften niedergeschrieben – und einige schon damals in der Form festgehalten, in der sie noch heute verwendet werden – für die »Awoda Sche’ Balew«, den Dienst an G’tt im Herzen und mit dem Herzen.

Der Autor war von 1981 bis 2002 Landesrabbiner von Württemberg.

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