Die Situation in der Ukraine spitzt sich weiter zu. Russlands Präsident Wladimir Putin hat die Separatistengebiete im Osten des Landes als unabhängige Staaten anerkannt und die Entsendung russischer Truppen dorthin befohlen. Unterdessen diskutieren deutsche Politiker weiterhin, ob Waffen an die Ukraine geliefert werden sollen oder nicht.
ZDF-Moderator Markus Lanz machte unlängst in diesem Zusammenhang eine bemerkenswerte Äußerung. Er verstehe einfach nicht, sagte er, warum nach Waffenlieferungen aus anderen Ländern an die Ukraine noch eine Forderung an Deutschland komme: »Als ob Waffen jemals etwas besser gemacht hätten.«
LEHREN Schon vor Jahren habe ich in Deutschland, vor allem auch in Kirchenkreisen, eine enorme Abneigung gegen alles bemerkt, was mit Waffen zu tun hat. Generell war das Thema in den vergangenen Jahrzehnten umstritten, denn »Nie wieder Krieg« ist für viele nichtjüdische Deutsche eine der zentralen Lehren aus der Zeit der NS-Herrschaft geworden.
Wenn ein Volk angegriffen wird, haben wir die Pflicht, Waffen zu liefern.
Was aber sagt das Judentum über Selbstverteidigung – wann besteht die Notwendigkeit zum Gebrauch von Waffen? Dazu ein kurzer Blick in die jüdischen Quellen und zunächst eine Vorbemerkung: Unsere Tradition lehrt, dass die gegenwärtigen Lebensumstände, in denen wir ständig das Gefühl haben, uns gegen eine feindliche Umgebung wappnen zu müssen, nicht ewig andauern werden. Die Zeit, die dieser Zustand der Welt umfassen wird, ist im Judentum begrenzt.
MESSIAS Nach der jüdischen Tradition ist unsere heutige Welt nur für die Dauer von 6000 Jahren bestimmt. Danach wird das messianische Zeitalter beginnen, entweder in guten oder auch in schlechten Zeiten. Doch so weit sind wir noch nicht.
Zurück zur Frage, wie das Judentum in der heutigen Realität und angesichts eines drohenden Krieges in Europa zum Einsatz von Waffen steht? Zweifelsohne sind diese notwendig zur Abschreckung gegen Menschen und Völker, die die Unabhängigkeit anderer nicht anerkennen.
Meine verstorbene Mutter rief oft verzweifelt: »Warum hat G’tt den Menschen so aggressiv geschaffen?«. Doch das ist die Realität. Gerade die jüngste Geschichte zeigt leider immer noch, dass »Frieden auf Erden« eine totale Utopie ist. Wir müssen uns also verteidigen und bewaffnen. Leider gibt es keine andere Möglichkeit, unsere eigene Lebensweise, Kultur und Religion zu bewahren.
HALACHA Philosophie und Halacha, das jüdische Religionsgesetz, gehen im Judentum Hand in Hand. Trotz der großen Betonung auf »Streben nach Frieden« in den rabbinischen Schriften sind der Talmud und der Schulchan Aruch, der jüdische Kodex, eindeutig in ihrer Wortwahl: »haba lehorgecha, hashkem lehorgo« – wenn jemand versucht, dich zu töten, sei ihm voraus und töte ihn zuerst« (Sanhedrin 72a).
Das Recht auf Selbstverteidigung ist auch im jüdischen Kodex (I: 329,6) geregelt: »Wenn eine feindliche Gruppe eine Stadt bedroht, ohne klare Absichten zu haben (es ist nicht klar, ob sie nur kommen, um zu plündern oder ob sie auch die Absicht haben, zu töten), muss man sich ihnen bewaffnet nähern und darf den Schabbat entweihen.«
Dies gilt aber nur für Städte in der Mitte des jüdischen Landes; für Grenzstädte gilt etwas anderes. Hier ist es erlaubt, dem Feind entgegenzugehen, wenn dieser nur ein wenig Heu stehlen will – auch wenn dies den Schabbat entweihen würde. Rabbiner Mosche Isserles (1520–1577) fügt hinzu, »dass diese Bestimmungen auch dann gelten, wenn feindliche Banden lediglich mit einem Angriff drohen«.
Das Judentum ist eine friedliebende Religion, und in der Tora steht im weitesten Sinne, dass »alle ihre Pfade friedlich sind« (Sprüche 3,17). Dies steht in starkem Gegensatz zu den Kriegsgesetzen im Talmud und im Schulchan Aruch, wo es heißt, dass selbst eine Drohung ernst genommen und mit Waffengewalt geahndet werden muss.
Erst im messianischen Zeitalter werden Schwerter zu Pflugscharen.
Wir verfolgen also ein völlig anderes Konzept als die Bergpredigt im sogenannten Neuen Testament: »Widersteht nicht dem, der böse ist, sondern wenn dich jemand auf deine rechte Wange schlägt, so wende ihm auch die andere zu« (Matthäus 5,39).
Selbstverteidigung wird von jüdischen Autoritäten als religiöse Pflicht definiert, weil wir unsere eigene Kultur verteidigen und bewahren müssen.
Waffen sind dabei unverzichtbar. Wenn also ein Volk angegriffen wird, haben wir auch die Pflicht, Waffen zu liefern, damit sich dieses Volk verteidigen kann. Es wäre grausam und unmenschlich, Waffenlieferungen zu verweigern. Wir müssen verfolgte Menschen aus den Händen ihrer Angreifer retten.
PROPHEZEIUNG In der Tat sind wir – quälend langsam – unterwegs in Richtung einer helleren Zukunft. Manchmal ist es die Hölle auf Erden. Aber wir werden es schaffen. Denn einer der Namen G’ttes ist Schalom, Frieden.
Und letztlich wird sich, wenn auch erst im messianischen Zeitalter, die Prophezeiung Michas erfüllen: »Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Kein Volk soll mehr das Schwert gegen ein anderes erheben, und sie sollen fortan keinen Krieg mehr führen. Ein jeder wird unter seinem Weinstock und unter seinem Feigenbaum wohnen, denn niemand wird sie erschrecken« (Micha 4, 1–4).
Der Autor ist Rabbiner und lebt in Israel.