Das neue Jahr hat gerade begonnen. Bei der synagogalen Vorlesung aus der Tora sind wir deshalb wieder beim Buch Bereschit angelangt, beim 1. Buch Mose, das mit folgenden Worten beginnt: »Im Anfang schuf Gʼtt Himmel und Erde« (1. Buch Mose 1,1). Jüdische Denker sehen in diesem Vers eine würdige Zusammenfassung der Schöpfungsgeschichte. Gʼtt ist der Anfang und die Ursache für alles, was existiert.
Der Rambam, Maimonides (1138–1204), sieht in dem Grundsatz, dass Gʼtt als der Schöpfer des Alls die Grundlage aller erkennbaren Grundlagen sowie der Tragpfeiler aller möglichen Erkenntnisse ist, die primäre und zugleich charakteristische Glaubenswahrheit seines Volkes.
»Und Gʼtt schuf den Menschen als Sein Ebenbild (…); und schuf sie als Mann und Frau« (1. Buch Mose 1,27). Dieser Vers bildet einen zentralen Aspekt in der Anthropologie der Tora. So heißt es, dass jedes Individuum vor Gʼtt gleichbedeutend ist. Und die Tatsache, dass jedes Individuum als einzigartig und als eine eigene Welt zu betrachten ist, gewinnt vor dem Hintergrund der Fortschritte in der Gentechnik an Aktualität und Gewicht.
In der Mischna, der nachbiblischen Lehre der Rabbinen, ist zu lesen: Wenn Herrscher Münzen von der gleichen Form prägen ließen, so war eine jede von ihnen lediglich eine Kopie, eine Vervielfältigung der anderen (Sanhedrin 37a). Dagegen drückte der Ewige, gelobt sei Er, jeder und jedem Einzelnen von uns Adams Stempel der menschlichen Würde auf, und dennoch gleicht kein Mensch dem anderen.
Der Ewige drückt jedem Einzelnen Adams Stempel der menschlichen Würde auf
Manche Anhänger der feministischen Theologie behaupten, dass die Tora und der Schöpfungsbericht eine frauenfeindliche Einstellung transportieren würden. Ich teile diese Auffassung nicht – im Gegenteil, ich halte sie sogar für falsch und möchte dies gern begründen. Dabei möchte ich nicht nur trockene Argumente anführen, sondern mich auf die klassische jüdische Exegese stützen.
Was dachten unsere Exegeten über die Rolle der Frau? Dazu können wir bereits im Wochenabschnitt Bereschit etwas finden: »Von allen Bäumen des Gartens darfst du essen, doch vom Baum der Erkenntnis (…) darfst du nicht essen; denn wenn du davon isst, wirst du sterben« (1. Buch Mose 2, 16–17).
Wie wir wissen, hatte Adam von dieser Frucht gegessen, doch er starb nicht an dem Verzehr. Laut Tora lebte er sogar noch 930 Jahre. Was führte nun dazu, dass Gʼtt Seinen Willen geändert hatte? Genau das fragten sich die Rabbinen, und ihre Antwort lautete: Chawa. Als das Verbot, die Frucht zu genießen, offenbart wurde, war Adam noch allein. Als er schließlich von ihr essen sollte, war Chawa bereits neben ihm. Und genau deshalb durfte er weiterleben.
An einer anderen Stelle des Midrasch lesen wir: Bei der Erschaffung der Frau kehrte der Schabbat, der erste und zugleich höchste Festtag, ein. Bei der Vertreibung aus dem Paradies nahm Chawa diesen Schabbat mit hinaus in die Welt. Seither weihen Frauen diesen geheiligten Tag durch das Anzünden der Lichter.
Kaum ist die Welt erschaffen, werden wir jedoch Zeugen zweier Vergehen und zweier Verbannungen. Zuerst essen Adam und Chawa verbotenerweise die Frucht vom »Baum der Erkenntnis von Gut und Böse«. Zur Strafe für das Missachten dieser gʼttlichen Anordnung werden beide aus dem Garten Eden verbannt.
Und dann tötet der erste Sohn von Adam und Chawa, Kajin, seinen jüngeren Bruder Hewel. Zur Strafe wird Kajin dazu verurteilt, sein Leben auf ständiger Wanderschaft zu verbringen.
Warum müssen ausgerechnet diese tragischen Geschichten die ersten sein, die wir in unserer Tora lesen?
Der Mensch sündigt und will sich nicht verantworten
Beide Geschichten haben Gemeinsamkeiten, in beiden sündigt der Mensch. Und ebenfalls in beiden versucht der Mensch, sich seiner Verantwortung zu entziehen, wird aber auf ähnliche Art und Weise bestraft, und zwar mit Vertreibung und Wanderschaft. Zudem gibt es den Fluch, der das Land unfruchtbar oder öde macht.
Doch trotz aller Gemeinsamkeiten hat jede der beiden Geschichten ihre ganz eigene Dimension. In der Geschichte von Adam und Chawa geht es um die Beziehung zwischen Gʼtt und dem Menschen – sozusagen eine vertikale Linie von oben nach unten. Gʼtt weist an, den Baum der Erkenntnis zu meiden. Und Adam und Chawa setzen sich über das Verbot hinweg. In der Geschichte von Kajin und Hewel hingegen dreht sich alles um die Beziehung zwischen den Menschen untereinander. Hier haben wir eine horizontale Linie: Kajin tötet seinen Bruder Hewel.
Laut unseren Weisen lehrt uns dieser allererste Tötungsakt eines: Jeder Mord an einem anderen Menschen kommt dem Mord an einem Bruder gleich. Und bei den Ausreden, mit denen sowohl Adam als auch Kajin nach ihrem Vergehen aufwarten, stoßen wir auf dieselben Dimensionen. Adam, der gegen ein gʼttliches Gebot verstoßen hat, versucht, die Schuld nach oben weiterzuschieben, und beschuldigt den Ewigen. Er sagt: »Die Frau, die du mir gegeben hast, hat mir die Frucht gegeben.« Gʼtt habe ihm also die falsche Frau gegeben, und nur deswegen sei er schuldig geworden. Kajin hingegen verbleibt auf der zwischenmenschlichen Ebene und leugnet seine Verantwortung, indem er sich ganz unschuldig gibt und fragt: Bin ich denn der Hüter meines Bruders?
Vertreibung, Flucht oder Exil
Wir sehen hier deutlich die Parallelen zwischen beiden Geschichten, mit denen unsere Tora beginnt und damit auch die Geschichte unseres Volkes. In welcher jüdischen Familie gäbe es keine Erfahrungen von Vertreibung, Flucht oder Exil – ganz zu schweigen von den Verbannungen, die unser Volk als Ganzes immer wieder betroffen haben?
Ich denke da an das Babylonische Exil vor mehr als 2600 Jahren und an die Vertreibung der Juden aus ihrer Heimat durch die Römer vor rund 2000 Jahren. Der Talmud, unsere nachbiblische Lehre, sagt, dass jede dieser beiden Vertreibungen das Ergebnis eines Versagens des jüdischen Volkes war. So war das erste Exil eine Strafe für den Götzendienst und die Versäumnisse im Verhältnis zwischen Mensch und Gʼtt. Das zweite aber sollte eine Folge von »Sin’at chinam« sein, also von »grundlosem Hass« zwischen Mensch und Mensch. Wie in der Geschichte von Adam und Chawa ist der Grund für das Babylonische Exil im nachlässigen Glauben zu suchen. Und wie in der Geschichte von Kajin und Hewel sind die Ursachen für das zweite Exil in den Defiziten bei der sozialen Verantwortung zu suchen.
All dies verweist auf die doppelte Herausforderung, mit der wir als Gemeinschaft und Gesellschaft konfrontiert sind. Als Juden müssen wir sowohl unserer Tradition als auch unseren sozialen Verpflichtungen treu bleiben. Nur dann können wir auch als Juden überleben. Wir dürfen deshalb weder unseren Glauben vernachlässigen noch den Einzelnen in unserer Gemeinschaft.
Nicht ohne Grund stellt uns die Tora schon am Anfang vor diese Herausforderung. Damit versichert sie uns, dass wir als Individuen und als Gemeinschaft überleben und gedeihen werden – vorausgesetzt, wir stellen uns diesen Herausforderungen und bauen uns eine Gesellschaft auf, die auf den Prinzipien Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden basiert, und zwar so, wie es sich die Propheten Israels vorgestellt haben.
Der Autor ist emeritierter Landesrabbiner von Württemberg.
Inhalt
Mit dem Wochenabschnitt Bereschit fängt ein neuer Jahreszyklus an. Die Tora beginnt mit zwei Berichten über die Erschaffung der Welt. Aus dem Staub der aus dem Nichts erschaffenen Welt formt der Ewige den Menschen und setzt ihn in den Garten Eden. Adam und Chawa wird verboten, vom Baum der Erkenntnis zu essen, der inmitten des Gartens steht. Doch weil sie – verführt von der Schlange – dennoch eine Frucht vom Baum essen, weist sie der Ewige aus dem Garten. Draußen werden ihnen zwei Söhne geboren: die Brüder Kajin und Hewel. Der Ältere, Kajin, tötet seinen Bruder Hewel.
1. Buch Mose 1,1 – 6,8