Zu Beginn seiner Abschiedsrede ruft Mosche Himmel und Erde als Zeugen an. Der Midrasch erklärt: Der Herr segnete unser Volk, dass es so zahlreich wie die Sterne am Himmel und der Sand des Meeres werden würde. Die Rabbinen legen dies so aus: Wenn die Kinder Israels die Treue zur Tora bewahren, werden sie bis zu den Sternen emporsteigen. Halten sie die Tora aber nicht, dann werden sie wie Sand.
Mosche verabschiedet sich vor seinem Tod und beschwört das Volk, weiter auf dem von G’tt gezeichneten Weg zu wandeln. Er ist sich darüber im Klaren, dass die Verführung zur Abkehr mannigfaltig ist und sich der Abgrund für Israel rasch öffnen könnte. Er möchte, dass sein Volk für alle Zeiten den Lebensweg und die Lebensform des G’ttesvolkes wählt. Daher spricht er: »Siehe, ich lege dir heute das Leben vor, wie auch das Glück (das Gute) und den Tod und das Unglück« (5. Buch Mose 30,15).
Glück Den Menschen, den Kindern Israels ist die freie Wahl gegeben. Sie sollen, ja müssen die Wahl selbst treffen – zu jeder Zeit, allein, ohne Beeinflussung oder Bevormundung. Was ist das wahre Leben, wo liegt das wahre Glück des Menschen, insbesondere das des Juden? Die Lehrer Israels versuchen, uns diese Wahl bis heute zu erleichtern, indem sie ununterbrochen forschen, lehren und lernen. Zu jeder Zeit ist es ihre Aufgabe gewesen, in der Tora einen Wegweiser zu finden.
Ich möchte zwei Gelehrtenmeinungen erwähnen, um zu zeigen, zu welch unterschiedlichen Positionen und Erkenntnissen sie dabei gelangen – ohne dass einer von ihnen durch seine Aussage die Meinung eines anderen aufhebt. Der erste Rabbi lebte im 18. Jahrhundert in Litauen, in Wilna, in der Stadt, die damals wegen der Frömmigkeit und Gelehrsamkeit ihrer Einwohner »Klein-Jerusalem« genannt wurde. Er hieß Elia ben Schlomo Wilner, man nennt ihn auch den »Wilnaer Gaon«. Er war der erste wissenschaftliche Talmudforscher und der größte Gegner des Chassidismus.
Elia Wilner merkt zu dieser Torastelle an, dass die Schrift hier in der Anrede die Einzahl verwendet: »Siehe, ich lege dir heute das Leben und das Glück vor«. Er sieht darin einen Hinweis darauf, dass, auch wenn Zeiten ethischer Verwirrung ein Herabsinken der gesellschaftlichen Moral mit sich bringen sollten, der Einzelne weiter in seinem Glauben stark bleiben möge. Denn G’tt, sein Herr, hat mit ihm für alle Zeiten einen Bund geschlossen, Seine Fürsorge endet nicht.
Elia Wilner half mit dieser Aussage vielen Juden, die zum Teil unterdrückt wurden und in einer fremden und häufig feindlich gesinnten Umgebung lebten. Seine Worte unterstützten sie dabei, sich nicht nach der gewalttätigen Mehrheit zu richten, die andere verachtet, sondern sich wie Bündnispartner G’ttes zu verhalten und Seine Güte und Gnade nachzuahmen.
SInn Der zweite Rabbiner war eine sehr bekannte Persönlichkeit des Chassidismus. Über sein Leben ist wenig überliefert. Er starb Mitte des 19. Jahrhunderts. Seine Anhänger nannten ihn Reb Menachem Mendele aus Kozk. Er deutete den Vers »Siehe, ich lege dir das Leben vor« folgendermaßen: Das soll uns immer daran erinnern, dass das Leben ein besonderes, ein wertvolles Geschenk ist. Es ist uns jedoch nur deshalb zuteil geworden, damit wir das Gute in dieser Welt mehren. Um des Lebens willen muss der Mensch das Gute wählen, das auch den anderen ein menschenwürdiges Leben ermöglicht. Das Gute im Leben zu suchen, ist das Wesentliche, es ist der Sinn des menschlichen Daseins.
Wenn wir die Vernunft walten ließen, so der Kozker Rebbe, müssten wir einsehen, dass wir im Guten miteinander auskommen können und alle aufeinander angewiesen sind. Aber sehr oft, klagt er, mangele es an Vernunft und Einsicht. Dies könne uns ums Leben bringen. Aus Unvernunft und Uneinsichtigkeit machen wir uns gegenseitig zu Feinden, obwohl es wesentlich einfacher ist, einander Gutes zu tun, um des Lebens willen.
Die Tora zeigt die beiden Alternativen, zwischen denen der Mensch wählen soll – Glück und Unglück – und fordert in Vers 19: »Wähle also das Leben!« Die Ethik des Judentums lässt sich nur auf der Verantwortung des Menschen gründen, auf dem Prinzip seiner freien Willensentscheidung.
Das scheint jedoch der Allmacht des allwissenden G’ttes zu widersprechen. Der Talmud löst diesen scheinbaren Widerspruch auf seine Weise: »Alles liegt in der Hand G’ttes, eine Ausnahme macht lediglich die Ehrfurcht vor G’tt« (Berachot 33b, Megilla 25a, Nidda 16b). Zu dieser muss sich der Mensch selbst durchringen. Sogar der allmächtige G’tt flößt seinen Kindern den Glauben nicht ein, sondern sie müssen selbst entscheiden, ob sie ihren Willen Seinem Willen unterwerfen.
oBERHAND Gemäß der Lehre vieler Rabbiner heißt es, wenn jemand um eine Entscheidung ringt, er kämpfe mit seinen unterschiedlichen Neigungen. Die eine hebt das Sittliche, das Positive hervor, die andere – ihr entgegengesetzte – will diese verdrängen und beharrt darauf, dass man nur auf sich und seine Interessen achten soll. Wir Juden müssen ständig darum bemüht sein, dass das Sittliche in unserem Tun die Oberhand gewinnt.
Dies kann nur dadurch geschehen, dass wir unsere seelische Kraft zunehmend zur Geltung bringen. Dies setzt aber voraus, dass der Mensch neben dem materiell bestimmten Dasein auch ein geistiges Leben führt. Wir besitzen nicht nur einen Körper, sondern auch ein Bewusstsein, die Seele. Der Körper ist den Geboten der materiellen Welt unterworfen, die Seele hingegen ist davon unabhängig. Daher kommt es, dass unser geistiges Leben, die seelische Kraft, unsere Leidenschaften und Neigungen zu bremsen und zu kanalisieren in der Lage sein muss. So kann der Mensch zwischen den sehr vielfältigen unterschiedlichen Lebenswegen die richtige Wahl treffen. Und weil wir selbst wählen, sind wir für unsere Taten und Entscheidungen auch selbst verantwortlich.
Die ethische Lehre der Tora besteht darin, dass sie dem Menschen einen Ansporn gibt, sich selbst als ein moralisches Wesen ständig zu formen, damit er den Verführungen und Herausforderungen des Alltags Herr werden kann.
Der Autor war von 1981 bis 2002 Landesrabbiner von Württemberg.
Inhalt
Der Wochenabschnitt Ha’asinu gibt zum Großteil das »Lied Mosches« wieder. Es erzählt von der Macht G’ttes und wie sie sich in der Geschichte der Welt gezeigt hat. Es erinnert an das Gute, das der Ewige dem Volk Israel zuteil werden ließ, aber auch an die Widerspenstigkeit der Israeliten und die Bestrafung dafür. G’tt spricht zu Mosche und fordert ihn auf, auf den Berg Nebo zu kommen. Von dort soll er auf das Land Israel schauen – betreten aber darf er es nicht.
5. Buch Mose 32, 1–52