Am 1. August 1291 wurde auf dem Rütli, einer Bergwiese am Vierwaldstättersee, die Schweizer Eidgenossenschaft gegründet. In Erinnerung an dieses wichtige historische Ereignis, das im Laufe der Zeit zur Entwicklung der heutigen Schweiz geführt hat, wird jedes Jahr am 1. August der Schweizerische Bundesfeiertag begangen.
Die meisten Länder der Welt gedenken an einem bestimmten Tag im Jahr ihrer Staatsgründung, ihrer Unabhängigkeitserklärung oder eines anderen bedeutenden Ereignisses ihrer Geschichte. Am 14. Juli beispielsweise erinnern sich die Franzosen an den Sturm auf die Bastille und die Revolution von 1789, und in den Vereinigten Staaten von Amerika wird am 4. Juli die Unabhängigkeit gefeiert.
Erinnerung Allen Schweizern, Franzosen und Amerikanern ist klar, dass das historische Ereignis, dessen sie gedenken, der Erinnerungsfeier vorausging. Zuerst hat sich das Ereignis abgespielt, danach ist – als Folge davon – der Erinnerungstag entstanden. Das historische Ereignis ist die Ursache, die Feier dessen Wirkung.
Auch in der jüdischen Geschichte ist es – zumindest auf den ersten Blick – nicht anders. In unserem Wochenabschnitt berichtet die Tora einerseits vom wichtigsten Ereignis der jüdischen Geschichte. Sie beschreibt die Befreiung des jüdischen Volkes aus der ägyptischen Versklavung und die ersten Schritte des Auszugs aus Ägypten. Andererseits findet sich in unserer Parascha einige Male die Vorschrift, Pessach zu feiern. Und es scheint klar zu sein, dass die Reihenfolge hier gleich ist wie in der Geschichte der Schweiz, Frankreichs und der USA. Das große historische Ereignis des Auszugs aus Ägypten ist die Ursache, Pessach die Folge davon. Gott hat das jüdische Volk aus der Versklavung befreit; deshalb feiern wir Pessach.
Die Exegeten Raw Sa’adja Gaon (882–942) und Ramban (Nachmanides, 1194–1270) verstehen die Tora so und interpretieren in diesem Sinne einen der wichtigsten Verse unseres Wochenabschnitts: 2. Buch Moses 13,8. Er findet sich gegen Ende der Parascha, und seine Wichtigkeit beruht darin, dass er die halachische Basis bildet für die Vorschrift, am Seder-Abend den Kindern vom Auszug aus Ägypten zu erzählen. Zudem ist der Vers Teil einer der vier Tora-Abschnitte, die in die Tefillin, die Gebetsriemen, gelegt werden. Er ist dadurch von täglicher religiöser Bedeutung. Nach Auffassung von Sa’adja Gaon und Ramban befiehlt die Tora in diesem Vers, den Kindern zu erzählen und zu erklären, dass wir Pessach feiern, weil Gott das jüdische Volk aus der Versklavung befreit hat. Er hat das Volk aus Ägypten geführt, und als Folge davon – und in Erinnerung daran – feiern wir das Pessachfest.
Einspruch Doch Ibn Esra (1092–1167) widerspricht dieser Interpretation des Verses. Als Paschtan, das heißt als Exeget, der den Pschat, die einfache und wörtliche Bedeutung des biblischen Textes, zu eruieren strebt, weist er darauf hin, dass der Wortlaut der Tora es nicht zulässt, den Vers so zu verstehen wie Sa’adja Gaon und Nachmanides es vorschlagen: »Können wir denn die Worte Gottes einfach umkehren?«, fragt Ibn Esra polemisch und erklärt den Vers, wie er in seinen Augen zu verstehen ist: Der Auszug aus Ägypten ist nicht die Ursache für das Pessachfest, sondern umgekehrt. Pessach ist die Ursache für die Befreiung aus der Versklavung.
Da diese Aussage der Chronologie der Dinge direkt widerspricht, muss sie genau erörtert werden. Ibn Esra präsentiert hier eine Geschichtsauffassung, die als Teleologie bezeichnet wird. »Telos« ist ein griechisches Wort und bedeutet »Ziel«. Ein teleologisches Geschichtsverständnis beinhaltet die Ansicht, dass sich historische Ereignisse nicht zufällig abspielen, sondern dass sie ein Ziel haben. Die religiöse jüdische Weltanschauung vertritt die Überzeugung, dass das Ziel von Gott bestimmt wird und dass Er die Geschichte so einrichtet, dass Er Sein Ziel erreicht. Diese Geschichtsauffassung ist eine theologische Teleologie. Ibn Esra versteht und interpretiert den oben erwähnten Vers unseres Wochenabschnittes gemäß dieser Geschichtsauffassung.
Gott hat die Welt erschaffen, um dem jüdischen Volk die Tora geben zu können So erklärt Raschi den ersten Vers des Tenachs (1. Buch Moses 1,1). Gott lenkt den Gang der Geschichte so, dass aus ihr die Gesetze der Tora resultieren. Alle historischen Ereignisse dienen diesem Ziel. Der Sohar drückt diese Idee so aus: »Gott schaute in die Tora und schuf die Welt.« Das bedeutet, dass Gott schon lange im Voraus das Ziel hatte, das Volk Israel Pessach feiern zu lassen. Mit diesem Ziel im Auge hat Er die Geschichte so eingerichtet, dass Er das jüdische Volk aus der Versklavung in Ägypten befreien kann, um ihm die Vorschriften von Pessach geben zu können. In diesem Sinn, so Ibn Esra, ist die Tora hier zu verstehen. Gott hat das jüdische Volk nach Ägypten und aus Ägypten geführt, damit wir Pessach feiern. Pessach ist die Ursache für den Auszug aus Ägypten.
Der Autor ist Rabbiner einer Gemeinde in Efrat bei Jerusalem und lehrt an den Universitäten Zürich und Luzern.
Die Originalfassung des von uns bearbeiteten Textes erschien in dem Band »Mismor LeDavid. Rabbinische Betrachtungen zum Wochenabschnitt« (Verlag Morascha, Basel 2007).
Inhalt
Der Wochenabschnitt Bo schildert die letzten Plagen, mit denen Gott Ägypten heimsucht: Zunächst Heuschrecken und Dunkelheit, dann kündigen Mosche und Aharon die Tötung aller ägyptischen Erstgeborenen an. Doch das Herz des Pharaos bleibt hart. Die Tora schildert die Vorbereitungen für das Pessachfest und beschreibt dann die letzte Plage: Alle Erstgeborenen Ägyptens sterben, doch die Kinder Israels bleiben verschont. Nun endlich lässt der Pharao die Israeliten ziehen. Zum Abschluss schildert die Parascha erneut die Vorschriften für das Pessachfest und die Pflicht zur Erinnerung an den Auszug aus Ägypten.
2. Buch Moses 10,1 – 13,16