Wie können wir die unterschiedlichen Rollen von Männern und Frauen im Judentum erklären? Nach dem Religionsgesetz ist jemand jüdisch, der eine jüdische Mutter hat (Matrilinearität). Die patrilineare Herkunft, die Definition über den Vater, wird in traditionell ausgerichteten jüdischen Gemeinden nicht anerkannt. Es gilt: Ist die Mutter jüdisch, sind es auch ihre Kinder.
Seit der Rückkehr aus dem persischen Exil um 445 v.d.Z. waren Priester, Leviten, Herrscher und Männer aus dem gewöhnlichen Volk gleichermaßen Ehen mit Frauen aus heidnischen Völkern eingegangen. Damit war der Versuchung zum Götzendienst in Israel Tür und Tor geöffnet. Deshalb fordert Esra nach dem Gesetz (5. Buch Mose 7, 1–5) die Auflösung dieser Ehen. Dementsprechend führen nichtorthodoxe Forscher die Festlegung auf die Matrilinearität auf die Zeit Esras und Nehemjas zurück.
Diese Argumentation greift jedoch zu kurz. Dabei wird übersehen, dass Jizchak bereits als der erste Jude gilt. Sein älterer Halbbruder Jischmael, Sohn der Ägypterin Hagar und Awrahams, konnte das Erbe seines Vaters nicht antreten. Die göttliche Verheißung, Erzvater Israels zu werden, geht nur auf Jizchak über.
KRIEGSEINSATZ Wird die Zugehörigkeit zum Judentum also seit frühester Zeit durch die Mutter bestimmt, wird der gesellschaftliche Status eines Juden durch den Vater festgelegt. So beginnt das 4. Buch Mose mit dem Bericht von der ersten Volkszählung in der Tora. Gezählt werden ausschließlich die Männer, da nur sie im Ernstfall für den Kriegseinsatz infrage kommen. Die Frauen stehen dabei unterstützend im Hintergrund.
Ebenso steht in Israel die männliche Linie bei der Thronfolge und der Nachfolge der Priester und Leviten im Vordergrund. Auch ist in unserem Abschnitt zu erkennen, dass sich die Familienabstammung über die männliche Linie fortsetzt, denn es heißt: »Nehmt die Summe der ganzen Gemeinde der Israeliten auf nach ihren Geschlechtern und Sippen und Namen – alles, was männlich ist, Kopf für Kopf« (4. Buch Mose 1,2).
Eine Ausnahme in der Tora erzählt die Geschichte von den Töchtern Zelophats (4. Buch Mose 27). Nachdem deren Vater gestorben ist, erheben sie Anspruch auf sein Erbe, denn er hat keinen Sohn hinterlassen. Daraufhin erklärt Mosche im Namen des Ewigen das Erbrecht für Töchter in Israel: »Und sage den Israeliten: Wenn jemand stirbt und keinen Sohn hat, so sollt ihr sein Erbe seiner Tochter zuwenden.«
DUALISMUS Steven Pinker, Psychologieprofessor an der Harvard University, berichtet 2002 in seinem Buch The Blank Slate (Das unbeschriebene Blatt) von der Äußerung einer Kollegin: »Ich weiß, dass das Maskuline und das Feminine nicht identisch sind. Ich erkenne das bei meinen eigenen Kindern und lese davon in der Forschung. Ich kann es nicht erklären, aber wenn ich von diesen Unterschieden zwischen Mann und Frau lese, dann steigt mir das Blut in den Kopf.«
Das heißt, sie ärgert sich darüber. Allein angesichts dieser Äußerung wäre es lohnend, sich mit den jüdischen Aussagen über den Dualismus des Maskulinen und Femininen auseinanderzusetzen.
So weist zum Beispiel Rabbiner Baruch Halevi Eppstein (1860–1941) darauf hin, dass die beiden hebräischen Wörter »Ben« (Sohn) und »Bat« (Tochter) Abkürzungen anderer Wörter sind.
Das Wort »Ben« leitet sich von der Wurzel »banah« (bauen) ab. So heißt es im Siddur nach dem Mussafgebet: Versteht unter dem Ausdruck »Söhne« nicht nur im gewöhnlichen Sinn »Kinder des …«, sondern »Erbauer des Friedens«.
Das Wort »Bat« (Tochter) könnte mit dem Wort »Bajit« (Haus) zusammenhängen. Aus diesen Wortverwandtschaften könnte man schließen: Die Söhne gründen ein Haus, die Töchter sind das Haus selbst, erfüllen es.
Eppstein ergänzt, das hebräische Wort »Umma« (Nation) sei von dem Wort »Em« (Mutter) abgeleitet. Auch hieraus lernen wir: Unsere nationale Identität wird uns durch die mütterliche Seite vermittelt.
TENDENZ Steven Pinker erwähnt in seinem oben genannten Buch, dass sich in allen Kulturen die Rollen von Männern und Frauen unterscheiden. Frauen sind mehr in die Kindererziehung involviert. Männer betätigen sich mehr auf öffentlicher, gesellschaftlicher und politischer Bühne. Damit wird eine universale Rollentendenz beschrieben im Blick auf die Frage: Wer »baut« was?
Zunehmend sind jedoch Ausnahmen und eine sich ausgleichende Tendenz zwischen den Geschlechtern festzustellen. Biologisch kann man diese Rollenverteilung nicht begründen.
Simon Baron-Cohen, Professor für Psychologie und Psychiatrie an der Universität Cambridge, schreibt in seinem Buch The Essential Difference (Der wesentliche Unterschied), dass bereits im Mutterleib die Gehirne von Frauen und Männern aufgrund differierender Hormonkonzentra-tionen auch unterschiedlich programmiert sind. Während das Gehirn von Frauen von Natur aus auf Einfühlung ausgerichtet sei, sei dem Gehirn von Männern die Gabe angeboren, die Welt systematisch und analysierend begreifen zu wollen.
Die amerikanische Psychologin Carol Gilligan ist der Meinung, dass Frauen auch eine andere Art des moralischen Denkens aufweisen. Sie stellt der männlichen Gerechtigkeitsmoral eine weibliche Moral der Fürsorge (Care-Ethik) gegenüber. Frauen orientieren sich demnach bei moralischen Urteilen mehr am Beziehungs- und Verantwortungsgefüge der an einer Problemsituation beteiligten Personen, Männer dagegen eher an abstrakten Rechten und Pflichten.
SARA UND RIWKA Diesen Erkenntnissen entsprechen die Erzählungen der Tora. Auch hier sind es die Frauen, wie Sara und Riwka, die viel eher als ihre Männer, Awraham und Jizchak, ein Gespür dafür entwickeln, welcher ihrer beiden Söhne (Jizchak oder Jischmael – Jakow oder Esaw) den Bund mit Gott weiterführen wird.
Zudem berichtet die Bibel von einer Fülle charakter- und willensstarker Frauen: Jocheved, die Mutter von Mosche; Mirjam, seine Schwester; die Hebammen Schifra und Pua; Batja, die Tochter des Pharaos, die Mosche aufzieht; dessen spätere Frau Zippora; Channa, die Mutter des Propheten Samuel; Debora, Esther, Ruth …
Auch die Tora kennt und beschreibt die Verschiedenheit der Geschlechter auf den Bühnen des privaten und gesellschaftlichen Lebens. Doch für das Judentum bestimmend und was es zusammenhält, sind die Eigenschaften der Liebe und Fürsorge, des Erbarmens, des Ein- und Mitfühlens – Eigenschaften, die dem Bund mit Gott wesentlich sind.
In ihnen bildet sich das Geheimnis der Heiligung ab, die das jüdische Haus, eine jüdische Familie wie unter einem Zelt birgt. So hat im Judentum auch das Persönliche Vorrang vor dem Politischen. Der gesellschaftliche Status eines Juden wird zwar durch den Vater geprägt, doch es ist zuallererst die Frau und Mutter, die das Fundament und den Aufbau des – einzelnen wie gesamten – jüdischen Hauses definiert und erschafft.
Der Autor ist Rabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Bamberg und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).
INHALT
Am Anfang des Wochenabschnitts Bemidbar steht die Zählung aller wehrfähigen Männer, mit Ausnahme der Leviten. Sie sind vom Militärdienst befreit und nehmen die Stelle der Erstgeborenen Israels ein. Ihnen wird der Dienst im Stiftszelt übertragen. Bei ihnen soll von nun an jeder Erstgeborene ausgelöst werden. Zudem wird geregelt, welche Familien für den Auf- und Abbau des Stiftszelts verantwortlich sind.
4. Buch Mose 1,1 – 4,20