Vor welchen Herausforderungen und Aufgaben stehen progressive Rabbiner und Kantoren im Europa des 21. Jahrhunderts? Dieser komplexen Frage widmete sich eine Podiumsdiskussion, die vergangene Woche in der Stiftung Neue Synagoge – Centrum Judaicum in Berlin-Mitte stattfand.
Die öffentliche Diskussionsrunde, an der auch der Rektor des Abraham Geiger Kollegs, Rabbiner Walter Homolka, teilnahm, fand im Rahmen der ersten mehrtägigen Alumni-Konferenz des Kollegs statt. Das dem Studiengang Jüdische Theologie an der Universität Potsdam angeschlossene Abraham Geiger Kolleg bildet liberale Rabbiner und Kantoren für die Arbeit in den Gemeinden aus.
Tradition »Die Absolventen des Abraham Geiger Kollegs sorgen entscheidend dafür, dass jüdisches Leben in Deutschland und Europa eine Zukunft hat«, sagte Rabbinerin Denise Eger von der Central Conference of American Rabbis in New York in ihrem Grußwort. Eger ermunterte die jungen Rabbiner und Kantoren, keine Angst vor Veränderungen zu haben. Dabei sei es entscheidend, die Traditionen nicht zu vergessen und sie für das Hier und Jetzt erlebbar zu machen.
»Ihr seid die Flamme des heutigen Judentums«, rief Eger den im Publikum sitzenden Absolventen zu. Man dürfe die Gestaltung jüdischen Lebens nicht denen überlassen, die keine Ideen für die Zukunft hätten, so Eger weiter. Rabbinerin Yael Deusel ergänzte im Namen der Allgemeinen Rabbinerkonferenz Deutschland: »Die Vermittlung eines modernen und zeitgemäßen Judentums ist die Mammutaufgabe, der sich alle Rabbiner und Kantoren heute stellen müssen.«
Im Zentrum der Diskussion stand die Frage, wie man es als religiöse Autorität in der Gemeinde schaffen kann, angesichts der allgemeinen Säkularisierungstendenzen in der Gesellschaft Menschen für Judentum und jüdisches Leben zu begeistern. Der Direktor der Kantorenausbildung am Abraham Geiger Kolleg, Isidoro Abramowicz, sagte, dass man sich auf die Veränderungen in den Gemeinden einstellen müsse. Die Ansprüche an Rabbiner und Kantoren seien heute ganz andere als noch vor einigen Jahren.
Kantor »Wir müssen uns den Realitäten stellen, um junge Menschen in die Gemeinden zurückzuholen«, stellte Abramowicz fest. Der gebürtige Argentinier war noch bis vor Kurzem als Kantor an der Großen Synagoge in Stockholm tätig. Dort lernte er die Probleme kennen, vor denen viele Gemeinden in Europa stehen: Sinkende Mitgliederzahlen, junge Menschen und Familien wenden sich ab, inhaltliche Zersplitterung, wachsende Verunsicherung durch ein sich gesellschaftlich und politisch wandelndes Umfeld.
Um diesem Negativtrend zu begegnen, müsse man offen auf die Menschen zugehen, forderte Rabbinerin Natalia Verzhbovska. »Wir Rabbinerinnen und Rabbiner dürfen nicht in unseren Synagogen warten, bis die Leute zu uns kommen. Stattdessen müssen wir uns aufmachen und zu den Leuten gehen«, sagte Verzhbovska. Die gebürtige Ukrainerin wurde 2015 vom Abraham Geiger Kolleg zur Rabbinerin ordiniert und betreut derzeit drei jüdische Gemeinden in Nordrhein-Westfalen.
Wichtig für ihre Arbeit sei nicht nur der enge Kontakt mit den Gemeindemitgliedern, sondern auch der interreligiöse Dialog und das Engagement in der Stadtgesellschaft, so Verzhbovska. »Wir müssen die Sorgen, Nöte und Wünsche der Menschen kennen, um glaubhaft religiöse Handlungsempfehlungen geben zu können«, betonte die 49-Jährige. Walter Homolka griff den Gedanken seiner Kollegin auf. Er sagte, dass jüdisches Leben nicht nur in den Gemeinden stattfinde. Vielerorts gebe es auch eine zumeist junge jüdische Zivilgesellschaft außerhalb der festen Institutionen, der man sich öffnen müsse.
Wahlheimat »Wenn man jungen Menschen Möglichkeiten gibt, ihre Ideen einzubringen, dann kann man sie auch für jüdisches Leben begeistern«, befand der Rabbiner auch mit Blick auf die Situation in seiner Wahlheimat Berlin.
Aus Frust über den Streit in der hiesigen Einheitsgemeinde seien viele Betergruppen und Kulturprojekte außerhalb der Gemeindestrukturen entstanden, die das vielfältige jüdische Leben in der Hauptstadt zunehmend prägten. So zum Beispiel die Gruppe »Let’s Start Davening«, in der sich vor allem junge Juden jeden Freitag zur gemeinsamen Schabbatfeier mit Musik und Gesang in einem Kulturzentrum treffen. Gerade auf diese Projekte müsse man als Vorsteher einer Gemeinde zugehen.
»Das Judentum ist eine Religion, in der viele verschiedene Meinungen nebeneinander existieren können. Diesen Grundgedanken müssen wir als liberale Rabbiner in unserer Arbeit verwirklichen«, so Homolka.