Frau Adler, an Jom Kippur verzichten viele Jüdinnen und Juden 25 Stunden auf Essen und Trinken. Was geschieht dabei im Körper?
Der Körper startet verschiedene physiologische Prozesse, um mit der fehlenden Energie- und Flüssigkeitszufuhr klarzukommen: Zunächst werden die Energiespeicher in der Leber und den Muskeln abgebaut, um den Blutzuckerspiegel aufrechtzuerhalten. Diese Reserven reichen normalerweise für etwa 24 Stunden. Sobald diese erschöpft sind, beginnt der Körper, Fettreserven zur Energiegewinnung zu nutzen. Dazu werden Ketonkörper hergestellt. Man bekommt einen fruchtigen, Aceton-artigen Mundgeruch. Der Wassergehalt des Körpers sinkt, was zu Kopfschmerzen, Schwindel und Konzentrationsproblemen führen kann. Auch verlangsamt der Körper den Stoffwechsel, um Energie zu sparen. Der Flüssigkeitsmangel führt zu einer Verringerung des Blutvolumens, sodass der Blutdruck absinken kann. Außerdem können wichtige Elektrolyte wie Natrium, Kalium und Magnesium aus dem Gleichgewicht geraten, was zu Herzrhythmusstörungen führen kann.
Das klingt nicht ganz ungefährlich. Wem empfehlen Sie, das Fasten vorher mit dem Arzt abzuklären?
Essen und Trinken auszusetzen kann tatsächlich der Gesundheit schaden, gerade, wenn man bereits mit einer Vorerkrankung belastet ist. Menschen mit Diabetes, insbesondere Typ-1-Diabetes, sollten aufgrund des Risikos für gefährliche Blutzuckerschwankungen nicht fasten. Auch bei Nierenerkrankungen ist eine ausreichende Flüssigkeitsaufnahme wichtig, um die Nieren zu entlasten und Schadstoffe auszuscheiden. Herz-Kreislauf-Erkrankungen können sich durch den Flüssigkeitsmangel verschlechtern, da das Herz durch das geringere Blutvolumen zusätzlich belastet wird und mit instabilem Kreislauf und Herzrhythmusstörungen reagieren kann. Magen-Darm-Erkrankungen, wie Magengeschwüre oder chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen können durch Fasten verstärkte Beschwerden hervorrufen, da die Magensäure ohne Nahrung die Schleimhaut reizt. Auch bei Lebererkrankungen wie Leberzirrhose hat die Leber Schwierigkeiten, Energiereserven bereitzustellen. Auch Gichtpatienten müssen aufpassen.
Sind auch gesunde Menschen gefährdet?
Schwangere, Stillende und Menschen mit Essstörungen sollten nicht fasten, da sie auf eine regelmäßige Nährstoff- und Energiezufuhr angewiesen sind. Zudem sind Kinder und ältere Menschen besonders anfällig für die negativen Auswirkungen von Flüssigkeitsmangel, können das schlechter kompensieren und sollten daher nicht fasten. Auch wer Medikamente einnimmt, muss dies mit ausreichend Flüssigkeit tun, damit sich die Wirkstoffe im Körper gut verteilen und nicht giftig oder zu stark wirken, weil sie zu hoch konzentriert sind. Manche Medikamente müssen außerdem für die Aufnahme in den Körper und eine bessere Verträglichkeit zum Essen eingenommen werden.
Manche Menschen empfinden nach längerem Fasten eine Art »High«. Gibt es dafür eine medizinische Erklärung?
Das ist möglich. Die gebildeten Ketonkörper dienen auch dem Gehirn als Energiequelle. In der Ketose-Phase berichten einige Menschen von einem Gefühl der Klarheit, einer Art natürlichem »Energie-High« oder sogar Euphorie. Dieser Zustand ist Teil der Überlebensmechanismen des Körpers, der versucht, die geistige Schärfe und das Wohlbefinden kurzfristig zu steigern, um die Chancen zu erhöhen, nun bitte endlich auf Lebensmittelsuche zu gehen. Längeres Fasten setzt auch Stresshormone frei. Diese steigern das Energieniveau und die Wachsamkeit, was von manchen als euphorisches Gefühl beschrieben wird. Sogar das Glückshormon Serotonin und das Belohnungshormon Dopamin können vermehrt gebildet werden.
Führt das auch zu spirituellen Höhenflügen?
Der Mangel an Nahrung und Wasser führt bei manchen Menschen zu einem veränderten Bewusstseinszustand, der tranceartig erlebt werden kann. Dieser Zustand gleicht einer Entkoppelung von der Umgebung, ausgelöst durch physische Erschöpfung bei ständigem Hungergefühl. In Religionen bekommen das Fasten und die Entbehrung einen spirituellen Wert und wird als tiefere Bewusstseinserfahrung angesehen, weil die körperlichen Bedürfnisse in den Hintergrund treten und die Wahrnehmung auf das Spirituelle gelenkt wird.
Fast jede Kultur kennt das Fasten als Ritual. Steckt auch ein medizinischer Sinn dahinter, auf Essen zu verzichten?
Medizinische Vorteile sind die Umstellung des Stoffwechsels, bei der der Körper von der Energieversorgung durch Kohlenhydrate auf die Verbrennung von Fettreserven wechselt. Ketonkörper reduzieren Entzündungen, regulieren den Blutzuckerspiegel sowie die Insulinsensitivität, was besonders für Menschen mit einem Risiko für Typ-2-Diabetes nützlich ist, und wirken Gehirn-schützend bei neurologischen Erkrankungen. Insgesamt hat Fasten entzündungshemmende Effekte, da die Ausschüttung von Entzündungsstoffen im Körper gesenkt werden. Fasten reduziert Bluthochdruck, hohe Cholesterinwerte und Triglyzeride, was allgemein die Herz-Kreislauf-Gesundheit fördert.
Stimmt der Mythos, dass Fasten den Körper »reinigt«?
Es fördert tatsächlich die zelluläre Müllabfuhr, die sogenannte Autophagie, ein natürlicher Prozess der Zellreinigung, wobei beschädigte Zellbestandteile und verklebte Eiweiße abgebaut und recycelt werden. Das verjüngt. Dies beginnt nach 24 Stunden, geht aber so richtig erst nach 48 Stunden los. Im religiösen Kontext passt das zur Idee der Reinigung und Heilung.
Haben Sie einen Tipp, wie einem das Fasten leichter fällt?
Eine gute Vorbereitung beginnt bereits vor dem eigentlichen Fasten, indem man am Vortag die Ernährung umstellt: Kohlenhydrate, die schnell Zucker freisetzen, reduzieren, leichte Kost einnehmen. Vorab auf eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr mit Mineralien achten, damit der Körper gut hydriert ist und Herz und Nervensystem weiter gut arbeiten können. Während des Fastens hilft Ablenkung, wie das Beten in der Synagoge, das Miteinander in der Familie, und die Gemeinschaft mit anderen. Körperliche Bewegung sollte eher sanft und nicht zu intensiv sein, damit die ohnehin knappen Energiereserven nicht zu schnell leer werden. Eine positive mentale Einstellung ist essenziell. Man sollte das Fasten vorsichtig brechen. Der Körper, insbesondere das Verdauungssystem, muss sich wieder an feste Nahrung gewöhnen, weshalb mit leichter Kost begonnen werden sollte, wie etwa Suppen, Tee, gekochtes Gemüse, leichtes Gebäck oder etwas Obst. Eine langsame Wiedereinführung der Nahrung reduziert Verdauungsprobleme und hilft dem Körper, sich wieder auf eine normale Ernährung umzustellen.
Die Fragen stellte Mascha Malburg.