Wajeschew

Familiensinn

Der Zusammenhalt steht sinnbildlich für das Ideal einer Familie.

Am Israel chai! Das Diaspora-Dasein des jüdischen Volkes ist ein einmaliges Phänomen, insbesondere während der vielen Jahre, in denen sich das Judentum ohne eigenes Land behauptete und trotz widrigster Umstände die eigene Identität nicht verlor. Die erste historische Diaspora des jüdischen Volkes vor mehr als 3500 Jahren kommt in unserem Wochenabschnitt mit der Geschichte von Josef und seinen Brüdern, den künftigen Stammesvätern, in Gang.

Im Verlauf der Geschichte wird der Vorvater Jakow mitsamt seiner ganzen Sippe das versprochene Land Israel verlassen und nach Ägypten ziehen, wo seine Nachkommen in jahrhundertelanger Unterdrückung und Sklaverei zu einem Volk werden.

Doch was führte Jakows Familie ins ägyptische Exil und später dann in die Sklaverei? Auf diese Fragen können mehrere Antworten gegeben werden:
Der Hass zwischen den Brüdern sorgte dafür, dass Josef von seinen Brüdern als Sklave nach Ägypten verkauft wurde, wie ausführlich im Wochenabschnitt beschrieben (1. Buch Mose 37, 1–36). Dies führte dazu, dass schließlich die gesamte Familie nach Ägypten zog.

Doch Josef sah das anders. Als er, inzwischen Vizepharao in Ägypten, sich im übernächsten Wochenabschnitt seinen Brüdern zu erkennen gab, beschwichtigte er sie und betonte, dass nicht ihr Handeln ihn nach Ägypten geführt hat, sondern die Absicht Gʼttes: »Und nun kränket euch nicht, dass ihr mich hierher verkauft habt, denn zur Lebenserhaltung hat Gʼtt mich vor euch her gesandt … euch am Leben zu erhalten, zu großer Rettung« (45, 5–7).

Diese Erkenntnis erwarb er sich auf seinem langen Leidensweg. Schon bevor er nach Ägypten kommt, sendet ihm Gʼtt ein Zeichen, dass er nicht allein sei: durch die wohlriechenden Gewürze, welche die Karawane statt des sonst für gewöhnlich übel riechenden Petroleums oder Pechöls mit sich führte (Raschi 1. Buch Mose 37,25).

Im Gefängnis ließ Gʼtt ihn nach der Rettung verheißenden Traumdeutung des Mundschenks zwei weitere Jahre verweilen, in denen sich Josef bewusst werden sollte, dass die Rettung nicht von einem Menschen allein abhängt (»Denn du, Mundschenk, mögest dich an mich erinnern«, 40,14), sondern vor allem in der Hand Gʼttes liegt (»Der Mundschenk aber erinnerte sich nicht an Josef, sondern vergaß ihn«, Raschi 23).

Wie sehr diese Erkenntnis zu Josef durchdrang, zeigte sich in seiner ersten Reaktion, als der Pharao ihn aus dem Gefängnis holen ließ, um seine unerklärlichen Träume zu deuten: »Da antwortete Josef dem Pharao: Es ist nicht von mir! Gʼtt wird beantworten, was zu Pharaos Heil gereicht« (41,16).

In Gʼttes Plan ging es um viel mehr als um die bloße Lebenserhaltung

Josef hatte durchaus recht, dass es der Plan Gʼttes war, der die Kinder Israels nach Ägypten brachte. Doch in diesem Plan ging es um viel mehr als um ihre bloße Lebenserhaltung. Schon dem Vorvater Awraham hatte Gʼtt 200 Jahre zuvor verkündet: »Du sollst wissen, dass deine Nachkommen fremd sein werden in einem Land, das ihnen nicht gehört, und sie werden sie knechten und unterdrücken, 400 Jahre lang. Aber auch strafen werde Ich das Volk, dem sie dienen, und nachher sollen sie ausziehen mit großer Habe … Die vierte Generation wird hierher zurückkehren« (15, 13–16).

Hierbei handelte es sich um ein feierliches Bündnis, das die Geschichte von rund einem halben Jahrtausend in wenigen Worten umfasste. Also nicht bloß eine aus dem Moment geborene vorübergehende Rettungsmaßnahme, nein, ein viel größerer Plan steckte dahinter und dementsprechend auch eine viel erhabenere Absicht. Doch welche? Und welche Version stimmt nun? Ist nur eine die richtige?

Tatsächlich ergänzen sich die Antworten: Einerseits ist es stets die Willensfreiheit, sind es die menschlichen Entscheidungen und auch Fehler, welche die geschichtlichen Abläufe mitbestimmen. Andererseits wird die Geschichte nicht vollkommen sich selbst überlassen. Gʼtt ist nicht nur der Schöpfer, sondern auch der Lenker der Geschichte und setzt ihr Ziele. Nicht nur kurzfristige, wie von gläubigen Menschen wie Josef oftmals aus eigener Kraft entdeckt werden kann, sondern auch langfristige.

Doch was steckt hinter dem langfristigen Plan, weshalb wurde Awraham schon Jahrhunderte vorher ein Dasein in Fremdherrschaft und Unterdrückung prophezeit?

Um die versprochene Nation im verheißenen Land aufbauen zu können, muss diese zuerst einen elementaren Leitfaden in ihre DNA aufnehmen: »Arewut« – Verantwortung füreinander. Jehuda zeigte diese als Erster, mit seinem Versprechen gegenüber dem Vater Jakow, auf den Jüngsten, Binjamin, in Ägypten aufzupassen: »Anochi eʼerwenu« – »Ich will für ihn bürgen, aus meiner Hand sollst du ihn fordern« (1. Buch Mose 43,9).

Jehuda stellte sich mutig vor den fremden Herrscher in Ägypten hin und forderte Binjamin zurück

So war auch er es, der sich mutig vor den fremden Herrscher in Ägypten hinstellte und Binjamin zurückforderte: »Denn dein Diener verbürgte sich (hebräisch: »araw«) für den Jungen bei meinem Vater … Und nun lass doch deinen Diener statt des Jungen als Sklave meinem Herrn bleiben, und möge der Junge mit seinen Brüdern wieder hinaufziehen, denn wie soll ich hinaufziehen zu meinem Vater, und der Junge ist nicht bei mir?« (44, 32–34).

Das jüdische Volk ist von Grund auf dazu bestimmt, einen langen, Jahrtausende währenden Weg in der Menschheitsgeschichte einzuschlagen, im Land Israel und auch in der Diaspora. Um diesen beginnen und bestehen zu können, war es notwendig, das »Arewut-Gen« in die entstehende nationale DNA aufzunehmen. Die Unterdrückung und Sklaverei in Ägypten durchzustehen und ausgerechnet da zum Volk zu werden, war bedingt durch das Gefühl des gegenseitigen Einstehens füreinander, so wie Geschwister es tun sollen.

Der Autor ist Oberrabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Wien.

inhalt
Der Wochenabschnitt Wajeschew erzählt, wie Josef – zum Ärger seiner Brüder – von seinem Vater Jakow bevorzugt wird. Zudem hat Josef Träume, in denen sich die Brüder vor ihm verneigen. Eines Tages schickt Jakow Josef zu den Brüdern hinaus auf die Weide. Die Brüder verkaufen ihn in die Sklaverei nach Ägypten und erzählen dem Vater, ein wildes Tier habe Josef gerissen. Jakow glaubt ihnen. In der Sklaverei steigt Josef zum Hausverwalter auf. Doch nachdem ihn die Frau seines Herrn Potifar der Vergewaltigung beschuldigt hat, wird Josef ins Gefängnis geworfen. Dort lernt er den königlichen Obermundschenk sowie den Oberbackmeister des Pharaos kennen und deutet ihre Träume. Die Geschichte von Tamar unterbricht die Josefsgeschichte wie ein Zwischenspiel.
1. Buch Mose 37,1 – 40,23

Hessen

Darmstadt: Jüdische Gemeinde stellt Strafanzeige gegen evangelische Gemeinde

Empörung wegen antisemitischer Symbole auf Weihnachtsmarkt

 19.12.2024 Aktualisiert

Berlin

Protest gegen geplantes Aus für Drei-Religionen-Kita

Im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg ist demnach ein Lernort geplant, in dem das Zusammenleben der verschiedenen Religionen von frühester Kindheit an gelebt werden soll

 16.12.2024

Feiertage

»Weihnukka« - Weihnachten und Chanukka beginnen am selben Tag

In diesem Jahr starten ein hohes christliches und ein bekanntes jüdisches Fest am selben Tag, am 25. Dezember. Ein Phänomen, das manche »Weihnukka« nennen

von Leticia Witte  16.12.2024

Wajischlach

Wahre Brüder, wahre Feinde?

Die Begegnung zwischen Jakow und Esaw war harmonisch und belastet zugleich

von Yonatan Amrani  13.12.2024

Talmudisches

Licht

Was unsere Weisen über Sonne, Mond und die Tora lehren

von Chajm Guski  13.12.2024

Hildesheimer Vortrag

Das Beste im Menschen sehen

Der Direktor der Yeshiva University, Rabbiner Ari Berman, zeigt einen Ausweg aus dem Frontendenken unserer Zeit

von Mascha Malburg  13.12.2024

Debatte

Rabbiner für Liberalisierung von Abtreibungsregelungen

Das liberale Judentum blickt anders auf das ungeborene Leben als etwa die katholische Kirche: Im jüdischen Religionsgesetz gelte der Fötus bis zur Geburt nicht als eigenständige Person, erklären liberale Rabbiner

von Leticia Witte  11.12.2024

Vatikan

Papst Franziskus betet an Krippe mit Palästinensertuch

Die Krippe wurde von der PLO organisiert

 09.12.2024

Frankfurt

30 Jahre Egalitärer Minjan: Das Modell hat sich bewährt

Die liberale Synagogengemeinschaft lud zu einem Festakt ins Gemeindezentrum

von Eugen El  09.12.2024