Der Wochenabschnitt Wajelech wird in diesem Jahr am Schabbat Schuwa gelesen, das heißt am Schabbat in den »Zehn Tagen der Teschuwa« zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur. Die Atmosphäre dieser Tage ist derart ernst, dass ein Witz angebracht ist, um für etwas Auflockerung zu sorgen.
Zwei Galizier stehen während der Slichot-Gebete hinter einem Jecken und hören, wie er den Widduj, das Sündenbekenntnis, aufsagt: »Aschamnu, bagadnu, dibarnu Dofi …« (»Wir sind schuld, wir haben rebelliert, wir haben Schlechtes geredet …«). Da tippt einer der Galizier dem Jecken von hinten auf die Schulter und sagt: »Sie haben das Wort ›gazalnu‹ (»Wir haben gestohlen«) vergessen!« Worauf der Jecke eiskalt antwortet: »Ihr Galizier sollt ›gazalnu‹ sagen! Wir Jeckes stehlen nicht!« Verblüfft sagt der Galizier zu seinem Landsmann: »Hast du das gehört?! Nur um ein Wort zu sparen, verzichten die Jeckes aufs Stehlen.«
Atmosphäre Der Wochenabschnitt Wajelech passt bestens sowohl zu der erhabenen Atmosphäre der Hohen Feiertage als auch zu dem sarkastischen Witz sowie zu dem theologischen Problem, das in ihm verborgen ist. »Echeta we-aschuw« nennen unsere Weisen dieses Problem – auf Deutsch: »Ich werde sündigen, weil ich ja danach Teschuwa machen kann.«
Kurz vor seinem Tod wendet sich Mosche mit einer ergreifenden Rede an die Israeliten. Seine Worte sind ernüchternd: Das Volk Israel wird in Zukunft vom richtigen Weg abweichen, so wie es dies schon früher getan hat. »Denn ich kenne deinen Ungehorsam und deinen harten Nacken. Wenn ihr euch jetzt schon, da ich noch lebe und mit euch bin, ungehorsam mit G’tt zeigt, wie viel mehr dann erst nach meinem Tod?« (5. Buch Mose 31,27).
Die ungewöhnliche Formulierung »ungehorsam mit G’tt« kommentiert Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888) wie folgt: »Zwar immer wieder ›ungehorsam‹, aber dennoch immer wieder ›mit G’tt‹. Darin liegt alles Trübe und alles Tröstliche für Israels Wanderung durch die Zeiten.«
Dass die Israeliten während der 40-jährigen Wanderung durch die Wüste »mit G’tt« waren, überrascht nicht, denn sie erlebten große Wunder, deshalb waren sie »mit G’tt«, waren also fromm. Wie konnten aber die Menschen, denen es vergönnt war, die Schechina und die Wunder hautnah zu erleben, immer wieder »ungehorsam« sein?
ungehorsam Der Religionsphilosoph Yeshayahu Leibowitz (1903–1994) wundert sich nicht über diesen Ungehorsam: »Die Generation, die den Auszug aus Ägypten und die Spaltung des Schilfmeeres erlebte; die Menschen, die am Fuße des Berges Sinai die Tora empfingen – dieselben Menschen beteten kurze Zeit später das Goldene Kalb an. Die Nachkommen dieser Leute, die als freie Menschen in der Wüste aufgewachsen waren, die die Ernährung durch die himmlische Speise Man sowie andere Wunder erlebt hatten, durften zwar das Gelobte Land erobern und besiedeln – aber werden sofort nach der Landnahme ihre Treue zu G’tt verraten.«
Mit anderen Worten: Die Wunder – in der modernen Terminologie Hollywoods: die »special effects« – nützen sehr wenig, um einen Menschen dauerhaft zu bekehren. Der Glaube und die Gesetzestreue kommen nicht von außen, sondern aus der inneren Kraft der Seele eines Menschen. Daher kann auch die Teschuwa, die Rückkehr auf den richtigen Pfad der Lebensführung, nicht durch noch so große Wunder und nicht einmal durch die Offenbarung wachgerüttelt werden.
»Hakol bidej Schamajim chutz mi Jirat Schamajim«, sagen unsere Weisen: »Alles ist in der Hand des Himmels außer der Ehrfurcht vor dem Himmel.« Und wenn der Himmel etwas nicht erzwingen kann, können die günstigsten äußeren Umstände das erst recht nicht bewirken.
Was bedeutet dies für uns, hier und jetzt, im Jahr 2018 in Deutschland?
Wenn es darum geht, Ausreden dafür zu finden, was man nicht erreicht oder gar nicht erst angestrebt hat, ist jeder Mensch ein Experte. Warum finde ich nicht so oft den Weg in meine Gemeinde? Wäre meine Wohnung irgendwo in Jerusalem oder wenigstens in New York in der Nähe einer schönen Synagoge, in der das jüdische Leben in all seinen Facetten sprudelt, dann wäre ich täglich dort. Aber hier ist die Synagoge weit entfernt, und die Angebote meiner jüdischen Gemeinde sind für mich nicht attraktiv. Warum achte ich nicht streng auf die Kaschrut? Kein Koscherladen in der Nähe! Warum lerne ich nicht? Keine charismatischen Redner wie Yeshayahu Leibowitz oder begnadete Lehrer wie seine Schwester Nechama (1905–1997) sind in meiner Nähe.
Mit anderen Worten: Hätte ich alle diese »special effects«, dann wäre aus meinem Leben ganz bestimmt ein perfekter jüdischer Film geworden!
exil Bei den biblischen Generationen haben diese »special effects« wenig genutzt. Im Gegensatz dazu hatten die Juden im 2000-jährigen Exil oft das Gefühl, dass die Wunder G’ttes allzu lange auf sich warten ließen. Immer wieder erlebten die Menschen Verfolgungen, Diskriminierungen, ja sogar Pogrome und Massenmorde. Und doch blieben sie ihrem G’tt und Seinen Gesetzen treu.
Und wenn wir hoffen, »es macht nichts, wenn wir unsere Ziele verfehlen (so ist die buchstäbliche Bedeutung des Begriffes ›Chet‹ – ›Sünde‹), bald ist Jom Kippur, da können wir ja Teschuwa machen, und G’tt wird uns schon verzeihen«, dann haben wir das erwähnte Problem »echeta we-aschuw« (»Ich werde sündigen, weil ich ja danach Teschuwa machen kann«).
Die Mischna (Joma 9) warnt uns: »Wer sagt: Ich werde sündigen und danach Teschuwa machen – dem wird es nicht vergönnt umzukehren. Wer sagt: Ich werde sündigen, und der Versöhnungstag wird meine Schuld sühnen, für den sühnt der Versöhnungstag nicht.«
Und dennoch wollen wir unser gemeinsames Nachdenken über die Wege der Teschuwa mit einer optimistischen Note abschließen. Rabbiner Meir Simcha ha-Kohen aus Dwisk (1843–1926) erwähnt in seinem Buch Meschech Chochma den Vers 19 aus dem 32. Kapitel des Propheten Jirmijahu: »Groß von Rat und mächtig von Tat, Deine Augen stehen über allen Wegen der Menschenkinder, einem jedem zu geben nach seinen Wegen und nach der Frucht seines Tuns.«
Der Mensch wird also nicht nach dem absoluten Erfolg seines Tuns, sondern nach seinen Bemühungen beurteilt; nach seiner Entschlossenheit, Gutes zu tun. »Nach der Mühe ist der Lohn«, lesen wir in den Sprüchen der Väter. Mit anderen Worten: G’tt schaut auf die Wege eines Menschen. Wenn der Mensch steinige und steile Wege zu erklimmen versucht, wird er nach seiner Bemühung und nicht nur nach seinem Vorankommen beurteilt.
Die Anforderungen an uns Juden im Exil sind andere als damals in der Generation der Wunder. Hier in Deutschland sitzen wir immer noch auf den Scherben der Schoa. G’tt sieht, dass wir einige Jahrzehnte nach der schrecklichen Zerstörung Großartiges und Erstaunliches aufgebaut haben. Er schaut auf unsere Wege und sieht, wie viel Mühe wir uns geben, um den Weg zurück zu Ihm zu finden – das ist die Bedeutung des Begriffs »Teschuwa« in der hebräischen Sprache.
Schabbat Schalom, Gmar Chatima towa und Zom kal!
Der Autor ist Rabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg.
inhalt
Im Wochenabschnitt Wajelech geht es um Mosches letzte Tage. Er erreicht sein 120. Lebensjahr und bereitet die Israeliten auf seinen baldigen Tod vor. Er verkündet, dass Jehoschua sein Nachfolger sein wird. Die Parascha erwähnt eine weitere Mizwa: In jedem siebten Jahr sollen sich alle Männer, Frauen und Kinder im Tempel in Jerusalem versammeln, um aus dem Mund des Königs Passagen aus der Tora zu hören. Mosche unterrichtet die Ältesten und die Priester von der Wichtigkeit der Toralesung und warnt sie erneut vor Götzendienst.
5. Buch Mose 31, 1–30