Die Parascha Schelach Lecha erzählt von zwölf Kundschaftern (Meraglim), die Mosche aussandte, um die Situation im Land Kanaan auszuspähen. Zehn von ihnen beurteilten die Lage falsch: »Und sie brachten über das Land, das sie erkundet hatten, ein böses Gerücht auf« (4. Buch Mose 13,32). Die Kinder Israels glaubten den Kundschaftern und wollten vor Schreck nach Ägypten zurückkehren. Der Allmächtige bestrafte deshalb die Israeliten und ließ sie weitere 40 Jahre in der Wüste umherwandern.
Das »böse Gerücht«, das die Kundschafter über Eretz Israel verbreiteten, entstand aus der Angst heraus: »Wir können nicht hinaufziehen gegen dieses Volk, denn sie sind uns zu stark« (13,31). Weil sie feige waren, setzten die Kundschafter ein Gerücht in die Welt. Richtig gewesen wäre, das Volk hätte auf den Ewigen vertraut. Das nicht zu tun, war eine Gotteslästerung.
Verleumdung Nichtdestotrotz wird dies nicht als böswillige Verleumdung gewertet, denn Irren ist menschlich. Die Wahrscheinlichkeit, Fehler zu begehen, ist ein ständiger Begleiter des Menschen. Ein Computer, der keinen Handlungsspielraum hat, sondern so handelt, wie er programmiert ist, macht wesentlich weniger Fehler als ein Mensch. Der Mensch jedoch irrt sich häufig, er begeht eine Dummheit nach der anderen.
Doch warum macht der Mensch diese Fehler, worauf beruhen seine Entscheidungen? Offensichtlich können nur da Fehler gemacht werden, wo Entscheidungen getroffen werden. Im Gegensatz zu einem Engel oder einem Tier kann der Mensch kreativ sein. Er erfindet und erschafft ständig neue Dinge. Dies folgt aus der Sonderstellung des Menschen in der Welt.
Der RaMCHal, Rabbi Mosche Chaim Luzzatto (1707–1746), sagte: »Die Grundlage der Natur der Welt liegt in der höheren Macht. Alles, was in der physischen Welt existiert, ist das Produkt dieser geistigen höheren Kräfte. Es gibt also eine Spitze, die geistigen Kräfte und die physische Welt an der Basis. Jedoch wird eben nicht alles von der Spitze bestimmt, denn schließlich gibt es ja auch den freien Willen des Menschen: Der Allmächtige möchte, dass die Menschen frei wählen können zwischen Gut und Böse, und so machte Er ihn unabhängig von jemand anderem.
Fehler Umgekehrt gab der Allmächtige dem Menschen die Macht, ein Stimulus der Veränderung der Welt und ihrer Lebewesen zu sein« (Derech Haschem 5, 3–4). Der Mensch ist nicht nur ein Instrument, das ausführt, was höhere Gerichte entschieden haben, sondern er wirkt selbst »von unten« und ist dabei ganz unabhängig. Es gibt keine vorgegebene Realität, diese wird vielmehr vom Menschen beeinflusst. Dadurch eröffnet sich auch ein großer Spielraum für menschliche Fehler. Die Geschichte der Menschheit ist voll davon.
So wie die Kundschafter und das Volk lieber auf die Vernunft und auf rationale Argumente setzten, statt dem Allmächtigen zu vertrauen, kam es im vergangenen Jahrhundert in Europa zu tragischen Ereignissen und Katastrophen. Am Ende ließen die Menschen jegliche Traditionen und zivilisationsgeschichtliche Errungenschaften hinter sich. Viele erlagen den Täuschungen und folgten den Ideologien des Kommunismus und des Nationalsozialismus – der unvorstellbare Grauen über die Menschheit brachte, ganz besonders über unser Volk.
Noachidische GEbote Das Verbot der Gotteslästerung gilt, gemäß den sieben sogenannten Noachidischen Geboten, auch für Nichtjuden. Rabbiner Yoel Schwartz (geboren 1939) erläutert in seinem Buch Die sieben Gesetze der Tora für die Völker der Welt, dass das Verbot sowohl die Verfluchung des Ewigen als auch Respektlosigkeit gegenüber Ihm umfasst.
Demnach sollen also auch Nichtjuden Respekt vor dem Allmächtigen und der Tora haben. Sie sollen sich fernhalten von Schmähung, Götzendienst und Gotteslästerung. Gleichzeitig sind sie jedoch keineswegs zu irgendeinem Dienst für den wahren Gott verpflichtet. Sie sind aufgerufen, an die Existenz des Einen, an die Liebe zu glauben und Ihn zu fürchten. Aber sie haben keine liturgischen Verpflichtungen.
Von Juden wird religiöser Eifer erwartet. Die anderen Völker hingegen sollen in erster Linie die Welt kreativ entwickeln. Alle Vertreter der westlichen säkularen Gesellschaft, die die moralischen Werte, die aus der Tora stammen, einhalten und nach ihnen leben, eignen sich als Noachiden.
Der deutsche Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) hat dieses Ideal in den folgenden Worten formuliert: »Alles, was außer dem guten Lebenswandel der Mensch noch zu tun können vermeint, um Gott wohlgefällig zu werden, ist bloßer Religionswahn und Afterdienst Gottes.« Mit anderen Worten: Der Weg zu Götzendienst und Gotteslästerung ist manchmal nur sehr kurz.
Für die Kundschafter und letztendlich für alle Israeliten hatte die Gotteslästerung weitreichende Konsequenzen. Aber auch für Nichtjuden bleibt es nicht ohne Folgen, wenn sie Gott die Anerkennung verweigern. Respekt vor dem Ewigen ist nicht nur eines der grundlegenden Gebote für Juden, sondern für alle Menschen.
Der Autor studiert am Rabbinerseminar zu Berlin.
Inhalt
Mit G’ttes Erlaubnis sendet Mosche zwölf Männer in das Land Kanaan, um es auszukundschaften. Von jedem Stamm ist einer dabei. Zehn kehren mit einer erschreckenden Schilderung zurück: Man könne das Land niemals erobern, denn es werde von Riesen bewohnt. Lediglich Jehoschua bin Nun und Kalew ben Jefune beschreiben Kanaan positiv und erinnern daran, dass der Ewige den Israeliten helfen werde. Doch das Volk schenkt dem Bericht der Zehn mehr Glauben und ängstigt sich. Darüber wird G’tt zornig und will das Volk an Ort und Stelle auslöschen. Doch Mosche kann erwirken, dass G’ttes Strafe milder ausfällt.
4. Buch Mose 13,1 – 15,41