Tora

Falsch sortiert

Seit Tausenden von Jahren existieren in der jüdischen Welt des religiösen Gelehrtentums verschiedene Deutungen nebeneinander. Foto: fotolia

Vor einigen Jahren habe ich einmal jemanden verärgert, ohne es zu wollen. Der Anlass war eine Barmizwa, zu der ich eingeladen war, um den jungen Mann in meiner Predigt »anzusprechen«. Ich sprach davon, dass man das traditionelle jüdische Datum der Schöpfung der Welt im Jahr 5763 (oder welchem Jahr auch immer) nicht wortwörtlich nehmen muss, genauso wenig wie den Glauben daran, dass die Kinder Israels die Pyramiden gebaut haben, denn die Pyramiden sind wahrscheinlich älter als 4.000 Jahre.

Der junge Mann, dessen Barmizwa wir feierten, war sehr aufgeweckt und neugierig und hatte seine Probleme damit, das, was er in der Schule über Paläontologie gelernt hatte, mit dem in Einklang zu bringen, was sein »Rebbe« dazu sagte. Mein Argument war, die Tora sei mehr als ein wissenschaftliches Lehrbuch, und es würde sie ziemlich abwerten, zu glauben, ihre Welterklärung würde von solchen Detailfragen beeinträchtigt.

Im Publikum saß jemand, der die Religion erst später in seinem Leben entdeckt hatte und der eine sehr enge und buchgetreue Interpretation für die einzig rechtgläubige hielt. Dieser Mann bezichtigte mich, den wahren Glauben zu untergraben.

Ich finde, diese fundamentalistische und wortwörtliche Herangehensweise an die Tora lässt viel zu wünschen übrig, und intellektuell ist sie äußerst problematisch. Grundsätzlich geht es doch darum, ob darüber religiöses Judentum definiert wird oder nicht.

Fingerzeig Viele Texte der Tora erlauben unterschiedliche Deutungen. »Der Finger Gottes« bedeutet nicht unbedingt, dass es göttliche Fingernägel gibt, die geschnitten werden müssen. Ebenso bedeutet »die Stimme Gottes« nicht, dass Er Stimmbänder hat. Tatsächlich ist es einer der Grundsätze von Maimonides, dass Gott definitiv keine körperliche Abbildung hat. Aber auch dazu gab es abweichende Meinungen. Rabbi Abraham aus Posquieres (1120–1197), dem Raavad, schien diese Vorstellung gefallen zu haben. In seinen Kommentaren über Maimonides jedenfalls sagt er, »viele und bessere Männer« als er selbst hätten geglaubt, es gebe wirklich eine physische Manifestation Gottes.

Die Schöpfungsgeschichte lässt viele Auslegungen zu. Laut dem Midrasch schuf Gott mehrere Male Welten und zerstörte sie wieder, bevor Er diese unsere Welt schuf. Das mystische Buch Zohar beschreibt »Ein Sof« (den unendlichen, körperlosen, absoluten Gott), der »den Beginn« schuf als eine Phase im Prozess des Destillierens der physischen Welt, über die Elohim herrscht und in der wir leben.

Selbst der »Prozess der Sieben Tage« ist nicht eindeutig. Was war ein »Tag«, bevor Er am vierten Tag die Sonne an ihre Stelle setzte? Der Midrasch sagt, beim Licht des ersten Tages handele es sich um eine besondere Art von Licht, das in der kommenden Welt den Gerechten vorbehalten sei, eher so etwas wie Erleuchtung und weniger greifbare Sonnenstrahlen. Und als Gott sprach: »Lasst uns den Menschen machen nach unserem Abbild«, was hat Er gemeint?

Tausende Jahre existierten in der jüdischen Welt des religiösen Gelehrtentums die verschiedene Deutungen – wörtliche, rationale, symbolische und mystische – nebeneinander, ohne dass jemandem gesagt wurde, seine Ansicht sei unannehmbar. Heute gewinnt der Kreationismus in vielen Religionen an Boden. Einige christliche Fundamentalisten in den Vereinigten Staaten wollen, dass der Kreationismus in den öffentlichen Schulen parallel zur Evolutionstheorie gelehrt wird. Aber während die Evolutionslehre, mit all ihren Fehlern und Lücken, eine wissenschaftliche Theorie ist, gegründet auf wenigstens einigen beweisbaren Beispielen, ist Kreationismus keine wissenschaftliche Lehre, sondern schlicht eine Frage des Glaubens.

Wissenschaft Es ist nichts daran auszusetzen, dass zwei alternative Weltanschauungen nebeneinander existieren. Ehrlich gesagt, mir gefallen beide. Ich bin sowohl gegen einen dogmatischen Wissenschaftler, der das Spirituelle ausschließt, als auch gegen einen spirituellen Menschen, der glaubt, die Wissenschaft habe ihm nichts zu sagen.

Ich mag die Wissenschaft, und ich mag den Glauben. Wir Menschen brauchen beides. Und ich glaube nicht, dass man die beiden Denkweisen unbedingt miteinander versöhnen muss. Ich habe nichts gegen jemanden, der versucht zu beweisen, dass man die Genesis wörtlich verstehen kann, und Relativität und Physik in seine Interpretation zwingt. Ich glaube einfach nicht, dass es notwendig ist.

Jüdischsein hängt wesentlich davon ab, wie man lebt, wie und ob man die Tora in sein Leben bringt. Nicht die Theorie, sondern die Praxis zählt. Wenn es einem schwerfällt, an bestimmte Dinge zu glauben, ist das keine große Sache. Unsere Religion ist nicht eine, die ein Glaubensbekenntnis zur Bedingung der Mitgliedschaft macht. Halachisch gesehen, wird die Frömmigkeit eines Juden daran gemessen, wie er oder sie sich verhält. Nichts in der Tora sagt: »Du musst dies glauben.«

Griechen Die Begegnung mit Gott und der göttlichen Energie, die unsere Welt durchdringt und uns offenbart, wie wir leben sollen, ist das entscheidende Kriterium. Aber bevor die Griechen in die Geschichte traten, hielt man es nicht für nötig, diese Ideen rational zu formulieren oder darauf zu bestehen, dass man unbedingt an sie glauben muss! Tatsächlich bedeutet das biblische Wort, das wir mit »Glauben« übersetzen – Emunah –, eigentlich »Überzeugung« oder »Gewissheit«.

Man kann Menschen lehren, gewisse Dinge zu tun. Aber wie kann man darauf bestehen, dass jemand glaubt? Es ist leicht, eine nichtssagende Phrase vor sich hin zu plappern: »Ich glaube.« Aber wie kann man jemals feststellen, ob sie es wirklich meinen? Aus diesem Grund ist es das Verhalten eines Menschen, das über seine Stellung in der jüdischen Religion entscheidet.

Es geht im Buch Genesis nicht um die wissenschaftliche Evolution, sondern um die Evolution der Begegnung der Menschheit mit Gott. Es tut mir leid, wenn einige Menschen das als antiorthodox interpretieren. Ganz im Gegenteil, es ist orthodox. Aber wie wir wissen, sind Schubladen die Sicherheit derjenigen, die nicht wissen, was echter Wert ist.

Der Autor ist Dozent und Gemeinderabbiner in New York und hat mehrere Bücher zum Judentum veröffentlicht.

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