Im Laufe der wöchentlichen Schriftlesungen sind wir fast am Ende des dritten Buches Mose angelangt. Die g’ttlichen Anweisungen, die den Inhalt dieses Abschnitts bilden, wurden am Berg Sinai verkündet.
Unsere dieswöchige Toralektüre enthält mehrere Grundsätze, die die Menschen in ihrem Alltag beherzigen sollen, zum Beispiel: »Und wenn ihr eurem Nächsten etwas verkauft oder etwas kauft aus der Hand eures Nächsten, so sollt ihr einer den anderen nicht übervorteilen« (3. Buch Mose 25,14).
Das Wort, das aus dem hebräischen Urtext völlig korrekt mit »übervorteilen« übersetzt wurde, bedeutet heute für die meisten schlicht und einfach »Betrug«, denn es geht darum, dass der Käufer oder Verkäufer geschäftliches Handeln dazu missbraucht, sein Gegenüber »über den Tisch zu ziehen«.
Besitz Es ist wichtig, in welchem Kontext die Tora dies verkündet: Die Israeliten wurden nach der Befreiung aus Ägypten schrittweise auf ihr freies Leben im eigenen Land vorbereitet. Dort sollte der Grundsatz gelten: Im 50. Jahr, nach einer Notveräußerung, »soll ein jeder zu seinem Besitz und auch ein jeder zu seiner Familie zurückkehren« (25,10).
Dass eine juristische Institution die soziale Sicherheit im Land bewahren soll, damit nicht einige verarmen und andere sich auf ihre Kosten dauerhaft bereichern, leuchtet ein. Derjenige, der in seiner Notlage gezwungen war, sein Land zu verkaufen, musste auch die Möglichkeit erhalten, spätestens nach einer Zeitspanne von 50 Jahren die wichtigste Grundlage seiner Lebensgestaltung, das Land, zurückzubekommen.
Daher betont die Tora: »Gemäß der Anzahl der Erntejahre sollst du von deinem Nächsten kaufen«, und ebenso: »Nach der Zahl der Erntejahre soll er dir verkaufen« (25,15). Die Anzahl der »Erntejahre« ist vom oder bis zum nächsten »Jobel« zu berechnen, das heißt entsprechend einer Frist von 50 Jahren.
Also wird eigentlich gar nicht das Land verkauft, sondern »eine Anzahl von Ernten«. Daher fügt die Tora hinzu, dass diese »Anzahl der Ernten« auch regulierend auf die Kauf- und Verkaufspreise wirken muss: »Entsprechend der höheren Zahl der Jahre sollst du seinen Kaufpreis erhöhen, und entsprechend der geringeren Zahl der Jahre sollst du seinen Kaufpreis verringern« (25,16). Auf diese Weise wird niemand zum Betrüger oder zum Betrogenen – vor allem nicht die Fremden, die sonst leicht Opfer solcher Handlungen hätten werden können.
Ein früherer chassidischer Rabbi, Naftali von Ropschitz, meinte zu diesem Verbot: Es ist klar, dass ich nach dem Buchstaben des Gesetzes der Tora keinen anderen betrügen darf. Der Geist, die Intention der Tora muss aber ebenso beinhalten, dass der Mensch auch sich selbst nicht betrügen darf.
Unrecht Die Gelehrten Israels wurden nicht müde zu betonen, dass die strengen Gesetze gegen die Übervorteilung ihre uneingeschränkte Gültigkeit nicht nur Juden, sondern allen Menschen gegenüber besitzen. Als Bestätigung wird eine Aussage aus dem 5. Buch Mose 25,16 hinzugefügt: »Ein Gräuel dem Ewigen, deinem G’tt, ist jeder, der solches tut, der Unrecht tut.«
Die früheren Gelehrten unseres Volkes waren darauf bedacht, die ethische Werteordnung für unseren Lebensweg exakt zu vermitteln. Von diesem Toraabschnitt ausgehend, zitieren sie ein Gespräch, in dem ein Jude seinen Rabbi fragte: »Wie sollen wir die Rangfolge von der Offenbarung G’ttes, der Tora, und unserem Volk und seinem Land bewerten?«
Die Antwort lautete: Viele von uns meinen, die Tora komme zuerst, ich aber sage dir, das Volk, die Menschen und das Land sind vorrangig zu nennen.
Dieser Ansicht sind auch andere Exegeten. So zitiert Rabbi Schimon Bar Jochai in Kohelet Rabba 1,9 den Propheten Jeschajahu: »Die Tage meines Volkes werden sein wie die Tage eines Baumes« (65,22). Der Rabbi fügt hinzu, dass man mit dem Baum die Tora assoziiert, und zitiert: »Sie ist ein Baum des Lebens allen, die sie ergreifen. Und selig sind, die sie halten« (Mischle 3,18).
Wer wurde nun für wen geschaffen: die Tora für die Menschen Israels oder diese für die Tora? Da das Wort G’ttes ewig besteht, müssen das Volk und das Land es befolgen, damit sie auch für alle Zeiten erhalten bleiben. Soweit die rabbinische Exegese.
Verheissung Im Land der Verheißung sehen viele nur ein Mittel zum Zweck. Sie meinen, der Vorzug des Heiligen Landes bestehe allein darin, dass man die von ihm abhängigen g’ttlichen Gebote (wie Schmitta und Jobeljahr) erfüllen kann.
Der mittelalterliche mystische Dichter Schlomo Halevi Alkabetz klärt in seinem Buch Bet Halevi darüber auf: »Das Land der Verheißung als g’ttliche Gabe ist deshalb für uns vollkommen, weil es nach rabbinischer Lehrmeinung der Ausgangspunkt der Schöpfung ist. Unsere Ahnen sehnten sich nach ihm, auch nachdem ihre Kinder von dort grausam vertrieben worden waren. Wir gaben die Hoffnung nie auf, dass unsere Kindeskinder eines Tages dorthin zurückkehren werden. Darin sehen die Rabbinen die eigenständige Besonderheit von Land und Volk der Israeliten.«
Denn selbst wenn man sich das Volk und das Land der Verheißung als zwei unabhängige Kategorien vorstellen würde, seien sie doch durch die Liebe G’ttes miteinander verknüpft, so Schlomo Halevi Alkabetz. Denn im 5. Buch Mose heiße es ja: »Es ist ein Land, um das sich der Ewige, dein G’tt, für dich stets kümmert. Die Augen G’ttes, deines Herrn, ruhen beständig darauf, vom Anfang bis zum Ende des Jahres« (11,12).
Der Autor ist emeritierter Landesrabbiner von Württemberg.
Inhalt
Der Wochenabschnitt führt das Erlass- und das Joweljahr ein. Das Erlassjahr, auch Schabbatjahr genannt, soll alle sieben Jahre sein, das Joweljahr alle 50 Jahre. Die Tora fordert, dass der Boden des Landes Israel einmal alle sieben Jahre landwirtschaftlich nicht genutzt werden darf, sondern brachliegen muss. Dies geschehe »dem Ewigen zu Ehren«. Im Joweljahr solle alles verkaufte Land an die ursprünglichen Besitzer zurückgegeben werden, die es erhielten, als das Land nach der Eroberung verteilt wurde (Jehoschua 13, 7–21). Außerdem müssen im Joweljahr alle hebräischen Sklaven freigelassen werden.
3. Buch Mose 25,1 – 26,2