Man sieht sie in einigen Regionen eher selten, aber manchmal stolpert man geradezu darüber. Sie hängt da, wird regelmäßig aktualisiert, und man sorgt dafür, dass sie uns den Tag einteilt. Die Rede ist von einer Tafel mit den halachischen Zeiten, den Zmanim.
Der Rabbiner einer Gemeinde, in der ich kürzlich zu Gast war, streicht zärtlich über den Aushang und erläutert mir die Zeiten einzeln und tut so, als hätte ich überhaupt keine Ahnung von gar nichts. »Diese Liste bedeutet den Leuten hier sehr viel«, sagt er und strahlt. Ich kannte einige von ihnen und konnte mir gerade noch verkneifen zu antworten: »Genau, und wir trennen den Müll: milchig und fleischig.«
Faible Der Rabbi hatte ein Faible für diese Zeiten, aber keines für mich. Denn eigentlich waren wir verabredet, um uns vor dem Abendgebet zum Schabbateingang noch ein wenig zu unterhalten. Deshalb hatte ich genug Zeit, mir die Tafeln in Ruhe anzuschauen. Als der Rabbi endlich erschien, war bereits mehr als eine halbe Stunde vergangen. Ohne ein Wort über sein Zuspätkommen zu verlieren, begann er sogleich, mir die halachischen Zeiten zu erläutern.
»Haben Sie überhaupt schon mal eine Tafel mit den Zmanim für eine Stadt gesehen?«, fragte er mich. Bevor ich etwas sagen konnte, redete er weiter: »Wissen Sie, wie viele Zeiten auf der Tafel stehen?« Und damit ich ja nicht zu Wort käme, gab er die Antworten gleich selbst. »Früheste Zeit für den Tallit und die Tefillin, eine Zeit, um das Schma Jisrael spätestens zu sagen, eine früheste Zeit für Mincha, die Zeit, zu der man drei Sterne sehen kann, zumindest theoretisch, und dann, ab wann man frühestens das Maariw sprechen darf.« Und so weiter und so weiter.
Wenn das irgendwo für einen gesamten Monat gezeigt wird, dann ist das durchaus beeindruckend. Es sieht ein wenig so aus wie der U-Bahn-Fahrplan in einer sehr großen Stadt. Und eigentlich ist es ja auch eine Art Fahrplan. Denn der Schabbat beginnt immer pünktlich. Genau in dieser Hinsicht ist er uns allen ein großes Stück voraus. Wenn das Gebet am Schabbat um 9.30 Uhr beginnen soll, dann hat sich nicht einmal die Hälfte der Leute eingefunden, die normalerweise kommen. Wenn wir Gäste einladen, dann ist vollkommen klar, dass sie viel zu früh auftauchen oder viel zu spät. Natürlich weiß man das mittlerweile und kalkuliert es mit ein. Wenn wir jemanden einladen, dann selten zur tatsächlichen Zeit, sondern meist eine halbe Stunde früher. Dann sind die Gäste zur gewünschten Zeit da.
Dating Als ich mit meiner Frau noch nicht verheiratet war und wir uns oft verabredeten, ging mir die Formulierung »Ach was, ich bin auch gerade erst angekommen« in Fleisch und Blut über. Was hätte ich sagen sollen? Vielleicht »Nein, ich bin viel zu früh losgefahren, und du bist viel zu spät gekommen?« oder »Ich stehe gern hier herum und schaue den Blumen beim Verwelken zu«? Wohl kaum. Stehen Sie mal in schwarzem Anzug, weißem Hemd und mit Sonnenbrille gegenüber einem italienischen Restaurant! Nach 15 Minuten wird der Besitzer nervös. Er kann ja nicht wissen, dass meine Begleitung dazu neigt, die Uhrzeit frei zu interpretieren.
Ich dachte über die Pünktlichkeit in unserem Alltag nach. Der Rabbiner mit der schönen Zeittafel musste doch bemerkt haben, dass noch nie eine Gemeindeversammlung oder der Erwachsenenunterricht zur angesetzten Zeit begonnen hatte. Während er also mit mir redete und ich gedanklich die Dates mit meiner Frau durchging, stoppe ich ihn mit einer Frage: »Sagen Sie Rabbi, Sie wissen doch, dass niemand pünktlich kommt, aber Zeit spielt eine so wichtige Rolle im Judentum. Wie passt denn das zusammen?« Der Rabbiner guckte verdutzt. Es überraschte ihn, dass jemand ihm ins Wort fiel.
Doch er fasste sich, und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Warum wir es nicht schaffen, pünktlich zu sein? Das wissen Sie doch selbst. Wir müssen so viele Zeiten einhalten, da brauchen wir auch Gelegenheiten, zu denen man ein wenig liberaler sein kann.«