In der Toralesung zum ersten Tag Pessach (2. Buch Mose 12, 21–51) geht es um den ersten Seder in unserer Geschichte – sozusagen den Proto-Seder, während wir noch in Ägypten waren. Nach dieser Nacht erfüllte sich die zehnte Plage, und die Erstgeborenen der Ägypter starben, weil sie nicht das Blut des Pessachlamms an ihren Türen hatten, das sie schützen würde. Schließlich zog das jüdische Volk aus Ägypten in die Freiheit.
Seit dieser Zeit erinnern wir uns an diese entscheidende Nacht, in der wir von Sklaven zu freien Menschen wurden. Während der Zeit der Tempel feierten wir Pessach als großes Wallfahrtsfest in Jerusalem und brachten das Pessachopfer. Heute haben wir den Sederabend, an dem wir noch einmal die ganze Geschichte der Sklaverei und der Freiheit nacherzählen.
Gilt diese Freiheit aber eigentlich nur für Juden? Sind Nichtjuden vom Pessachfest ausgeschlossen? In der Toralesung stehen gegen Ende folgende Verse: »G’tt sprach zu Mosche und Aharon: Dies ist die Bedingung des Pessach: Kein Fremder darf davon essen. Und jeder für Geld erworbene Knecht eines Mannes, den musst du beschneiden, dann darf er essen. Ein geduldeter Beisasse und Tagelöhner darf nicht davon essen« (12, 43–45).
Bundesschluss Auf den ersten Blick scheint Pessach also exklusiv für uns Juden zu sein, und Fremde werden explizit ausgegrenzt. Es geht aber gar nicht um den Fremden als vielmehr um Götzendienst, der von Pessach ferngehalten werden soll. Rabbiner Samson Raphael Hirsch (18o8–1888) erklärt in seinem Kommentar zu Vers 43, dass die Pessachfeier der ewig zu erneuernde Bundesschluss mit G’tt ist. Aus diesem Grund müssen alle, die daran teilnehmen, sowohl national, also durch »Geburt, Hörigkeit oder Wahl«, als auch durch ihre Gesinnung diesem Bund angehören.
Daher heißt die Bezeichnung des Fremden hier im Hebräischen »Ben Nechar« und nicht »Nochri«. Ben Nechar bezeichnet »das unjüdische, heidnische Wesen, das Heidentum, nicht den Heiden«, schreibt Hirsch. Ben Nechar sei »derjenige, der entweder durch Geburt oder durch das Prinzip seines Wandels dem Heidentum angehört«.
Folgerichtig ist nach dem Kommentar von Raschi (1040–1105) jeder ausgeschlossen, dessen »Handlungen seinem Vater im Himmel entfremdet sind (Talmud Sewachim 22b) – und es ist sowohl ein Nichtjude als auch ein abtrünniger Jude darunter zu verstehen«.
Vertrauen Es geht hier also nicht um einen Ausschluss von Nichtjuden, sondern um den Kontrast zwischen Menschen, die nach G’ttes Regeln leben, und jenen, die G’tt ablehnen. Es verhält sich genauso wie beim Auszug aus Ägypten zwischen dem jüdischen Volk einerseits, das an G’tt glaubte und Ihm vertraute, und dem ägyptischen Volk andererseits, das G’tt ablehnte und seine Hoffnungen auf den Pharao setzte. Daher sind Juden, die sich vom Judentum abgewandt haben, vom Pessach ausgeschlossen. Und Nichtjuden, die sich dem Judentum zugewandt haben, sind ein Teil des Pessach. Das passt auch zur Logik des Textes unserer Toralesung, in der es gerade einige Verse vorher heißt: »Auch eine große gemischte Menge zog mit ihnen hinauf« (12,38), also verschiedene Nationen, die sich dem Volk Israel beim Auszug aus Ägypten anschlossen, wie es Raschi erklärt.
In seinem Kommentar zu Vers 44 betont Rabbiner Hirsch darüber hinaus, dass das jüdische Volk in seiner »Willkommenskultur« sogar weiter ging als jedes andere Volk. Selbst der Sklave, der überall sonst ein schlimmes Los hatte, fand im Haus von Juden »eine Freistätte«. Dort sei er »gesetzlich vor Misshandlungen geschützt« gewesen und habe, wenn er wollte, durch Beschneidung und Mikwe dem jüdischen G’ttesbund angehört. »Er war wie die Kinder ein Glied des Hauses« und nahm wie sie am Pessachopfermahl teil, welches das G’ttesvolk konstituierte.
Gegenwart Und wie ist es heute? Zunächst ist wichtig zu betonen, dass Nichtjuden natürlich grundsätzlich bei unserem Pessachseder als Gäste dabei sein dürfen. Das Judentum ist Nichtjuden gegenüber generell positiv eingestellt. Zwar gibt es auch negative Aussagen, die aber nicht überwiegen.
Die Vorgeschichte von Pessach, die Sklaverei in Ägypten, ist Auslöser für beide Haltungen: In der Haggada heißt es, dass es in jeder Generation Menschen gibt, die uns vernichten wollen. Diese Aussage in Verbindung mit einem Leben als Minderheit mit Diskriminierungen und Verfolgungen hat immer wieder zu negativen Äußerungen gegenüber Nichtjuden geführt. Solche Stellen im Talmud oder anderen rabbinischen Werken muss man aber in ihrem historischen Kontext betrachten, und sie werden heute auch so interpretiert.
Gerade die Sklaverei in Ägypten ist Ansporn für uns Juden, dem Fremden gegenüber offen zu sein. Schon kurz nach dem Auszug aus Ägypten heißt es in der Tora: »Du sollst einen Fremden nicht bedrücken, weil du die Gefühle des Fremden kennst, denn fremd warst du im Land Ägypten« (2. Buch Mose 23,9). Das bedeutet: Gerade wir Juden sollten verstehen, wie sich ein Fremder fühlt, wie sich jemand fühlt, der diskriminiert oder ausgeschlossen wird, weil wir das selbst durchgemacht haben oder noch durchmachen. Genau darum sollen wir einem Fremden gegenüber positiv eingestellt sein.
In der positiven Haltung zu einem Nichtjuden ist die rabbinische Literatur sehr klar: Die Tosefta (Sanhedrin 13,2) macht deutlich, dass auch die Gerechten aus den nichtjüdischen Völkern einen Anteil an der kommenden Welt haben. Und im Talmud (Gittin 61a) heißt es: »Man ernähre die Armen der Nichtjuden mit den Armen Israels, man besuche die Kranken der Nichtjuden mit den Kranken Israels und begrabe die Toten der Nichtjuden mit den Toten Israels, des Friedens wegen.«
Worauf es ankommt, ist nämlich nicht, welcher Religion wir angehören, sondern wie wir uns verhalten und wie ethisch wir leben. Der Midrasch Tanna devei Elijahu formuliert es so: »Sei es ein Jude oder ein Nichtjude (...), allein nach ihren Werken ruht der Geist der Heiligung auf ihnen.«
Genau das ist auch der Kern der ursprünglich diskutierten Zitate aus der Toralesung zu Pessach: Egal ob es von jüdischer oder nichtjüdischer Seite kommt – die Mentalität des Götzendienstes, symbolisiert durch das korrumpierte und verdorbene Ägypten, hat keinen Platz bei uns am Sedertisch. Die Mentalität der Freiheit und Gerechtigkeit aber ist hochwillkommen.
Der Autor war Rabbiner in Düsseldorf. Zurzeit arbeitet er als Research Fellow an einem Forschungsprojekt des Schweizerischen Nationalfonds.