Für andere zu sorgen, ist eine vergessene Kunst. Anscheinend ent- decken die Menschen nur noch bei großen Katastrophen – Terror- anschlägen, Stürmen, Erdbeben, Überschwemmungen – die Güte, die oft tief in ihrer Seele verborgen ist. Die Bibel steckt voller Beispiele für die Fürsorge und Freundlichkeit Gottes (der hebräische Begriff dafür lautet »chesed«).
Unmittelbar vor seiner Begegnung mit Esau dankt Jakob Gott: »Gott meines Vaters Abraham und meines Vaters Jizhak, Ewiger, der du zu mir gesprochen: ›Kehre zurück in dein Land und zu deiner Verwandtschaft, und ich will dir Gutes erweisen‹, zu gering bin ich für all die Liebe (chasadim) und all die Treue, die du deinem Knecht erwiesen« (1. Buch Moses 32, 10-11).
Als Josef in Ägypten ins Gefängnis geworfen wird, erfahren wir: »Der Ewige aber war mit Josef und wandte ihm Liebe (chesed) zu und verlieh ihm Gunst in den Augen des Aufsehers des Gefängnisses« (1. Buch Moses 39, 21).
Chesed Im Talmud zitiert Rabbi Eleazar einen berühmten Vers des Propheten Micha: »Er hat dir gesagt, oh Mensch, was gut ist und was der Ewige von dir verlangt: Nur Recht zu tun und treue Liebe (chesed) und demütig mit deinem Gott zu wandeln« (Micha 6, 8). Sodann fragt Rabbi Eleazar: »Was bedeutet dieser Vers?« »Recht zu tun« bedeutet, in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Gerechtigkeit zu handeln.
»Treue Liebe zu tun« bedeutet, sein Handeln von den Grundsätzen der liebenden Güte (hebräisch: gemillut chasadim) leiten zu lassen. »Demütig mit deinem Gott zu wandeln« bedeutet, bedürftigen Familien bei ihren Beerdigungen und Hochzeiten zu helfen, indem man bescheiden und im Stillen gibt.
Der folgende Auszug aus dem Talmud erläutert ebenfalls die Bedeutung der liebenden Güte: »Durch dreierlei ist die Wohltätigkeit bedeutender als Almosen. Das Almosen erfolgt mit seinem Gelde, die Wohltätigkeit sowohl mit seinem Gelde als auch mit seinem Körper; Almosen nur an Arme, Wohltätigkeit sowohl an Arme als auch an Reiche, Almosen nur an Lebende, die Wohltätigkeit sowohl an Lebende als auch an Tote.
Ferner sagt R. Eleazar: Wenn jemand Recht und Gerechtigkeit übt, so ist es ebenso, als hätte er die ganze Welt mit Liebe gefüllt, denn es heißt: er liebt Recht und Gerechtigkeit, von der Liebe des Herrn ist die Erde voll (Psalm 33,5)« (Babylonischer Talmud, Sukka 49b).
Die höchste Form der Güte ist es, ein Leben zu retten. Ein bemerkenswertes jüdisches Sprichwort lautet: »Wer eine einzige Seele zerstört, zerstört die ganze Welt. Und wer eine einzige Seele rettet, rettet die ganze Welt« (Jerusalemer Talmud, Sanhedrin 23 a-b 12).
Lebensrettung Als Ira Anfang der 70er-Jahre an der Columbia-Universität in New York studierte, besuchten ihn seine Eltern. Damals war New York nicht gerade der ungefährlichste Ort der Welt, besonders für Touristen, die nicht wussten, wie es in der Stadt zuging. Am zweiten Tag ihres Besuches wurde Ira ins Krankenhaus eingeliefert, wo ihm in einer Notoperation der Blinddarm entfernt wurde.
Unsicher, wie sie aus der Innenstadt zum Krankenhaus kommen sollten, und völlig orientierungslos standen seine Eltern vor ihrem Hotel auf der Straße und warteten auf einen Bus. Ein Mann, der ebenfalls an der Bushaltestelle stand, fragte sie: »Haben Sie das Fahrgeld passend?« Iras Vater fehlten 25 Cent. Der Fremde gab ihnen einen Vierteldollar.
Der Bus kam, Iras Eltern stiegen ein und fragten den Fahrer: »Kommen wir mit diesem Bus zum St. Luke’s Hospital?« »Ja.« Er fuhr einen Block weiter und rief dann plötzlich Iras Vater nach vorne. »Hören Sie«, sagte der Fahrer mitfühlend und gab ihm einen Umsteigefahrschein. »Dieser Bus ist nicht der richtige für Sie. Steigen Sie hier aus und gehen Sie einen Block in westlicher Richtung zum Broadway. Steigen Sie dort in den Bus Richtung Nordstadt. Nun gehen Sie schon!« Sie stiegen aus, fanden den anderen Bus und kamen schließlich in Iras Zimmer im Krankenhaus an. Als sie hereinkamen, waren gerade zwei Freunde von Ira da.
Iras Mutter erzählte die Geschichte und fragte dann: »Warum um alles in der Welt hat der Busfahrer uns gesagt, wir sollten aussteigen?« Einer der Freunde antwortete: »Puh, Sie hatten ganz schön Glück, dass er das gemacht hat. Wenn Sie in diesem Bus geblieben wären, dann hätten Sie durch den Morningside Heights Park gehen müssen, um hierher zu kommen. Dort lungern Gangs herum, die jeden ausrauben, der ihnen in die Quere kommt. Erst letzte Woche wurde ein Mann umgebracht, der in dem Park spazieren ging. Dieser Busfahrer wusste, dass Sie ernsthaft in Gefahr gewesen wären. Wahrscheinlich hat er Ihnen das Leben gerettet.«
Organspende Joanie Rosen hat ein Leben gerettet. Das Leben ihres Bruders. Joanie ist reizend, fürsorglich und immer schnell mit Lob und Ermutigung bei der Hand. Sie hat Kosenamen für sämtliche Mitglieder ihrer Familie – eine Nichte ist »Rebecca von der Sunnybrook Farm«, frisch Verheiratete sind »Ken und Barbie«, ein kleiner Cousin ist »gute, gute, gute« (jiddisch für »gut«).
Joanies Wohnung ist komplett in den Farben Rot, Weiß und Blau dekoriert, als sei sie der Nationalfeiertagsausgabe der Zeitschrift Martha Stewart Living entsprungen. Es ist einfach schön, sie um sich zu haben.
Eines Tages erhielt Joanie einen Ruf, den alle fürchten und dem nur die Wenigsten folgen. Ihr Bruder Gary in Chicago, der seit Langem an einem Nierenleiden litt, würde sterben, wenn kein Spender gefunden würde. Joanie meldete sich sofort zu einer Untersuchung an, ob ihre Niere passen könnte, und das Testergebnis war positiv. Joanie freute sich sehr. Sie wollte ihrem Bruder das Leben schenken.
Ihr Vater war im Alter von 62 Jahren an Nierenversagen gestorben – ihr Bruder war 40. Er sagte immer, er wolle versuchen, gesund zu bleiben und länger zu leben. Aber nun war er in Lebensgefahr und brauchte unbedingt die Niere, die seine Schwester ihm gerne geben wollte.
Gary wollte nicht, dass sie das tat und ihr Leben riskierte, um seines zu retten. »Pony«, sagte er – er nannte sie Pony, weil sie als Kind immer einen Pferdeschwanz getragen hatte – »das ist zu gefährlich«. Aber Joanie wollte nichts davon hören.
Die Operation sollte in einem Krankenhaus in Wisconsin stattfinden. Joanie und Gary wurden gleichzeitig für die Operation vorbereitet. Beide waren sediert und lagen auf den Krankenhaustragen, Bruder und Schwester Seite an Seite.
So wie Joanie die Geschichte erzählt, stand Gary schon unter Narkose, sie aber noch nicht. Sie stand von ihrer Trage auf, ging zu Gary hinüber, nahm seine Hand und sagte: »Gary, jetzt wirst du die Lebensqualität haben, die du verdienst.« Obwohl Joanie glaubte, dass ihr Bruder bereits weggetreten war, drückte er wie zum Dank ihre Hand.
operation Die Operation verlief rundum erfolgreich. Gary erholte sich rasch und erfreute sich einer Lebensqualität, wie er sie viele Jahre nicht gekannt hatte. Auch Joanie erholte sich wieder – wenngleich es deutlich länger dauerte als erwartet. Bis heute lebt sie mit nur einer Niere. Joanie nahm ihr ganz normales Leben mit ihrem Mann Paul und ihren beiden Jungs wieder auf, mit allen Höhen und Tiefen, die man in zwanzig Jahren so durchmacht.
Bis Paul eines Tages mit ganz gelblicher Haut von der Arbeit nach Hause kam. Innerhalb von sechs Monaten ergriff der Krebs völlig von ihm Besitz, und er starb im Alter von 55 Jahren. Joanie war zutiefst niedergeschlagen, aber sie wollte sich davon nicht unterkriegen lassen. Sie hielt sich nach diesem tragischen Verlust durch die Fürsorge für zwei Söhne, eine Schwiegertochter und ein neugeborenes Enkelkind aufrecht.
Dann, nachdem er sich über 20 Jahre lang dank der gespendeten Niere bester Gesundheit erfreut hatte, fiel Gary plötzlich ins Koma. Sie eilte nach Chicago an sein Bett in einem Hospiz. Seit zwei Tagen war er nicht aufgewacht. Unbeirrt nahm Joanie seine Hand und sagte: »Ich liebe dich, Gary.« Er öffnete die Augen und sagte: »Ich liebe dich auch, Pony.« Am darauffolgenden Tag starb er.
Joanies ältester Sohn John sagte zu ihr: »Mom, unserer Familie ist so viel Schreckliches passiert. Ich weiß nicht, ob ich noch an Gott glaube.« Daraufhin sagte Joanie ihrem Sohn: »John, du musst glauben. Du musst Hoffnung haben. Wenn du keine Hoffnung mehr hast, dann hast du nichts. Ich habe Hoffnung. Ich habe die Hoffnung, dass morgen besser sein wird als gestern. Vielleicht wird es das, vielleicht nicht. Aber ich muss einfach glauben, dass morgen alles besser wird.« Joanie machte Geschenke liebender Güte: Ihrem Bruder das Geschenk des Lebens und ihrem Sohn das Geschenk der Hoffnung.
Wirkung Warum ist ein einziges Leben so wichtig? Kann ein einziges Leben auf der Welt überhaupt etwas bewirken? Als die Israeliten vor dem Heer des Pharao flohen und vor dem Roten Meer standen, sprach Gott zu Moses: »Befiehl den Israeliten, weiterzuziehen. Halte deinen Stab über das Meer. Es wird sich teilen, und ihr werdet sicher hindurchziehen.« Aber das Volk hatte Angst. Sie glaubten, sie würden ertrinken.
Ein Mensch, Nachschon ben Aminadew, hatte den Mut und den Glauben, ins Wasser zu schreiten und zu handeln. Immer weiter watete er hinaus, bis ihm das Wasser bis zu den Nasenlöchern stand und er nicht mehr atmen konnte. Erst dann teilte sich das Meer. Nachschon lag seine Familie und sein Volk am Herzen, und er machte den ersten Schritt – buchstäblich – um zu zeigen, wie sehr sie ihm am Herzen lagen.
Ein einziges Leben – mehr braucht es nicht, um in der Welt etwas zu bewirken. Jeder möchte wichtig sein. Jeder möchte etwas bewirken. Du kannst es. Tag für Tag. Mit einfachen Taten der Fürsorge und Güte. Eine wunderbare Geschichte darüber, wie man für andere sorgt, wurde durch das erste Buch der Reihe Hühnersuppe für die Seele bekannt, doch wie viele Geschichten, die Allgemeingut werden, weiß man nicht, woher sie ursprünglich kommt. Sie basiert auf einem Essay des Wissenschaftlers und Dichters Loren Eiseley, den er in seiner Schriftensammlung The Unexpected Universe veröffentlicht hat.
Heute kursieren buchstäblich hunderte verschiedener Versionen der Geschichte im Internet, und man hört sie regelmäßig bei Abschlussfeiern und in Motivations-Workshops. Warum? Weil sie eine tiefe Wahrheit veranschaulicht: Jede Handlung, die du begehst, hat Folgen für jemanden oder etwas in Gottes Universum.
effekt Sinngemäß geht die Geschichte so: Ein Mann geht am Strand spazieren und trifft dabei auf jemanden, der gestrandete Seesterne aufliest, sie wieder ins Meer zurückwirft und damit vor dem sicheren Tod bewahrt. Zu Hunderten werden die Seesterne an den Strand geschwemmt. Der Beobachter merkt an, die Bemühungen des Werfers seien nutzlos, weil sie im Endeffekt gar nichts ausmachten. Daraufhin schleudert der Werfer einen weiteren lebenden Seestern ins Meer und sagt: »Aber für den macht es etwas aus.«
Gott vollbringt Taten liebender Güte. Die Bibel steckt voller Geschichten darüber, dass Gott für andere sorgt. Das traditionelle jüdische Morgengebet enthält folgende Worte aus der Bibel: »Heilig sollt ihr sein, denn heilig bin ich, der Ewige, euer Gott. ... Du sollst einem Tauben nicht fluchen und vor einen Blinden sollst du keinen Anstoß legen. ... Ihr sollt kein Unrecht tun im Gericht, nicht sollst du den Niedern berücksichtigen und den Großen nicht scheuen; in Gerechtigkeit sollst du deinen Nächsten richten. Du sollst nicht stehen bei dem Blut deines Nächsten. Du sollst deinen Bruder nicht hassen in deinem Herzen. Und du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Ich bin der Ewige.« (3. Buch Moses 19, 2, 14-18)
Auch du kannst für andere sorgen. Indem du jeden Tag etwas Gütiges tust. Indem du für einen einzigen Menschen etwas bewirkst. Wer weiß? Vielleicht kannst du heute etwas tun, über das die Welt – deine Welt – noch Jahre später spricht.
Nachdruck aus »Der Himmel sucht Mitarbeiter – Gottes Aufgaben-Liste für seine irdischen Helfer«, Crotona, Amerang 2011, 175 S., 15,95 €
Ron Wolfson stammt aus Omaha/Nebraska, ist eine der bekanntesten jüdischen Stimmen der USA. Er lehrt als Professor für Pädagogik an der American Jewish University Los Angeles. Wolfson ist Bestsellerautor zahlreicher Bücher zu verschiedenen Themen des jüdischen Lebens (»The Shabbat Seder« u.a.). Der Crotona Verlag hat zwei davon (»Der Himmel sucht Mitarbeiter« und »Sieben Fragen, die auch im Himmel gestellt werden«) in deutscher Übersetzung veröffentlicht.