Corona

Ethische Hilfe

Die Corona-Warn-App will helfen, Infektionsketten zu erkennen. Foto: Getty Images

An diesem Dienstag hat die Bundesregierung endlich die lange geplante Corona-Warn-App für Smartphones vorgestellt. Jeder kann sie nun herunterladen und nutzen. In einer groß angelegten Kampagne soll für die freiwillige Nutzung der App geworben und offen und transparent erklärt werden, warum man sich so viel von einer möglichst breiten Anwendung erhofft.

In der Tat ermöglicht die Corona-App eine automatisierte und damit rasche und zuverlässige Nachverfolgung von Infektionsketten. Dies kann mittels der neuen Software nicht nur viel schneller und genauer erfolgen, als es die Mitarbeiter der Gesundheitsämter bisher in mühsamer Detektivarbeit leisten konnten.

Die App kann ihre Nutzer zusätzlich auch umgehend warnen, wenn sie sich in der Nähe einer infizierten Person aufgehalten haben, und sie zu einem Test einladen. Durch die automatisierte Anwendung der App können Infektionsketten also ebenso schnell wie anonym durchbrochen werden.

LOCKERUNGEN Gelingt dies, können die von der Bevölkerung zunehmend hinterfragten und kritisierten Einschränkungen des Alltagslebens weiter gelockert werden. Voraussetzung ist aber, dass genügend Menschen davon überzeugt werden können, dass ihre persönlichen Daten wirklich sicher sind, und dass sie bereit sind, die App herunterzuladen.

Nur dann hilft diese App dabei, die befürchtete Überforderung der Gesundheitsversorgung im Zuge einer zweiten Infektionswelle zu verhindern. Zur Rettung des Lebens schwer Erkrankter und ausdrücklich nicht nur derer, die an einer Covid-19-Infektion leiden, bleibt dies notwendig.

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Weltweit ist die Situation noch sehr dynamisch, und die Pandemie muss auch in Deutschland weiterhin ernst genommen werden. Weil die Kapazitäten der Intensivmedizin ausgebaut wurden und die Bevölkerung sich an weitreichende Freiheitsbeschränkungen im Lockdown, an Abstandsregeln, die Mundschutzpflicht und an Kontaktsperren gehalten hat, ist die Corona-Pandemie in Deutschland glücklicherweise viel glimpflicher verlaufen als in zahlreichen anderen Ländern dieser Welt.

Persönlichkeitsrechte Der trotz fast 9000 Toten immer noch glimpfliche Verlauf darf aber im Umkehrschluss nicht zur bewussten Entsolidarisierung vorgeschoben oder als Argument für die Behauptung benutzt werden, dass Lockdown und Kontaktbeschränkungen eine überzogene Schikane oder die Pandemie gar nur ein Vorwand für politisch motivierte Beschneidungen der Persönlichkeitsrechte gewesen seien.

Kritiker befürchten, dass die Corona-Warn-App Teil eines geplanten Abbaus von Bürgerrechten sein könnte. Wollen wir aber unsere Bewegungsfreiheit nicht weiter drastisch einschränken und gleichzeitig unser Gesundheitssystem vor einer tödlichen Überlastung bewahren sowie unsere Gesellschaft vor schwerwiegenden wirtschaftlichen und sozialen Nebenfolgen schützen, sollten wir wohl stärker zu pragmatischen Entscheidungen neigen.

In der jüdischen Tradition wird dem Leben ein nahezu absoluter Wert beigemessen.

Mit der allgegenwärtigen Verletzung unserer Persönlichkeitsrechte und Überwachung unserer Daten zur Konsumoptimierung haben wir uns längst abgefunden, fürchten aber die anonyme Erfassung zufälliger Begegnungen zwischen sich fremden Menschen zur Beherrschung einer Pandemie.

In der jüdischen Tradition wird dem Leben ein nahezu absoluter Wert beigemessen, und die Verpflichtung, Leben zu retten, steht als normatives Grundprinzip über fast allen anderen Vorschriften des jüdischen Religionsgesetzes, der Halacha.

Solidarität Die Halacha stellt damit seit jeher die gemeinschaftsstiftende Solidarität innerhalb der jüdischen Gemeinschaft über eigennützige Interessen und fordert Opfer und Einschränkungen jedes Einzelnen, wenn es um die Rettung von Leben geht. »Pikuach Nefesch«, die Verpflichtung, Leben zu retten, darf aber nicht als ein rein utilitaristischer Imperativ zur bloßen Maximierung von Lebensjahren und Menschenleben missverstanden werden.

Antike halachische Texte betonen schon sehr früh die Bedeutung präventivmedizinischer Maßnahmen zum Erhalt von Leben, und mittelalterliche Quellen belegen, dass die halachischen Autoritäten epidemiologisches Wissen in Hygienevorschriften zur öffentlichen Gesundheitsfürsorge umzusetzen wussten.

Im Sefer Chassidim, einem Rabbi Jehuda ben Samuel aus Regensburg zugeschriebenen halachischen Text aus dem zwölften Jahrhundert, und den zugehörigen Kommentaren lesen wir beispielsweise, »dass einer, der eine ansteckende Krankheit hat, seine Mitmenschen darüber informieren muss« (Makor Chessed, Sefer Chassidim, 673,4).

Lösegeld Abstandsregeln und Quarantänemaßnahmen sind Inhalt einiger biblischer Gebote und daher dem jüdischen Denken nicht fremd. Um Leben zu retten, nahmen jüdische Gemeinden schon im Mittelalter hohe wirtschaftliche Opfer in Kauf, etwa um entführte und von Ermordung bedrohte Juden mit hohen Lösegeldsummen freizukaufen.
Wie so oft müssen wir bei der Entscheidung, ob wir die Abstandsregeln weiterhin einhalten, beim Einkaufen, im Bus und in der Synagoge einen Mundschutz tragen, die Corona-Warn-App herunterladen oder nicht, konkurrierende Werte und Prinzipien gegeneinander abwägen. Solidarität und Verantwortung kommen mit Eigensinn und persönlicher Freiheit in Konflikt.

Der bisher glimpfliche Verlauf in Deutschland und die sehr unterschiedliche Risikoverteilung bringen eine besondere Spannung in die nun anstehenden Entscheidungen.

Risikogruppen Wie weit dürfen die Einschränkungen reichen, wenn doch viele Covid-Infizierte nur einen milden Krankheitsverlauf aufweisen, die Stabilität des Gesundheitssystems gar nicht gefährden, bestimmte Risikogruppen aber ein enorm hohes Sterblichkeitsrisiko haben oder lange intensivmedizinisch behandelt werden müssen und damit Intensivkapazitäten für andere Kranke »blockieren«?

Begreifen wir die Halacha als ethische Orientierungshilfe, können wir erkennen, dass die Corona-Warn-App ein wertvoller Teil einer klugen Renormalisierungsstrategie sein kann – auch oder gerade weil sie weniger dem Eigenschutz dient, sondern ein Instrument zum Schutz anderer ist.

Der Autor ist Internist, Onkologe, Palliativmediziner und Medizinethiker am Klinikum Bielefeld. 2019 wurde er auf Vorschlag des Zentralrats der Juden in Deutschland in die Zentrale Ethikkommission der Bundesärztekammer berufen.

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