Im Traktat Jewamot lesen wir: »Raw wurde von seiner Frau gepiesackt. Sagte er ihr, sie solle ihm Linsen kochen, so kochte sie Kichererbsen; bat er um Kichererbsen, dann kochte sie Linsen« (63a).
Gern wüssten wir, warum die Frau den Wunsch ihres Mannes nicht erfüllte. Wollte sie ihn provozieren? Raw scheint sich mit der misslichen Lage abgefunden zu haben: Dann hängt der Haussegen eben schief.
Chija, dem Sohn des Ehepaares, gelang es, die unerfreuliche Situation zu wenden: »Als Raws Sohn Chija heranwuchs, bestellte er verkehrt.«
Kichererbsen Raschi erklärt: »Sagte der Vater zum Sohn: ›Richte deiner Mutter aus, sie möge mir Linsen kochen‹, so sagte ihr Chija, der Vater bitte um Kichererbsen − und sie servierte ihm Linsen.« Durch Chijas Umkehrung des Auftrags erhielt der Vater die gewünschte Speise.
Gern wüssten wir, warum die Frau den Wunsch ihres Mannes nicht erfüllte. Wollte sie ihn provozieren?
Chija log seine Mutter an, indem er die Bestellung des Vaters einfach änderte. Durfte er das tun? Rechtfertigt die gute Absicht nach der Halacha das Sagen der Unwahrheit?
In der Regel darf man nach dem Gesetz der Tora nicht lügen. Aber aus mehreren Fällen in der schriftlichen Tora leitet der Talmud ab, dass man um des Friedens willen doch von der Wahrheit abweichen darf.
So wird unserem Stammvater Awraham eine Bemerkung seiner Ehefrau Sara falsch überliefert.
Heilige »In der Schule Rabbi Jischmaels wurde gelehrt: Bedeutend ist der Friede, dass sogar der Heilige, gepriesen sei Er, seinetwegen ein Wort geändert hat. Sara sagte: ›Mein Mann ist alt‹ (1. Buch Mose 18,12), und im folgenden Vers heißt es: ›Da sprach der Ewige zu Awraham …, und ich bin alt‹« (Baba Metzia 87a).
Um den Ehefrieden wiederherzustellen, war es ihm erlaubt, den Auftrag des Vaters zu ändern.
Und im Traktat Jewamot (65b) wird im Namen von Rabbi Eleasar Ben Rabbi Schimon gelehrt: »Man darf des Friedens wegen von der Wahrheit abweichen, denn es heißt (1. Buch Mose 50, 16-17): ›Dein Vater (Jakow) hat geboten … Also sprecht zu Josef: Vergib doch die Missetat deiner Brüder und ihre Schuld!‹« In Wirklichkeit haben Josefs Brüder die Botschaft des Vaters frei erfunden! Denn, wie Raschi erklärt, war Josef in den Augen Jakows überhaupt nicht verdächtig. Die dem Vater zugeschriebene Bitte kann er daher nicht geäußert haben.
Rambam Es gibt noch einige weitere Fälle, in denen ein Abweichen von der Wahrheit zulässig ist. Der Rambam, Maimonides, hat sie in seinem religionsgesetzlichen Werk Mischne Tora kodifiziert (Hilchot Gesela VeAveda 14,13).
Kehren wir nun zu unserer Geschichte zurück. Es fällt nicht schwer, Chijas Tun zu beurteilen: Er wollte die Beziehung zwischen seinen Eltern verbessern. Um den Ehefrieden wiederherzustellen, war es ihm erlaubt, den Auftrag des Vaters zu ändern.
Raw zog es vor, lieber die Respektlosigkeit der Ehefrau zu ertragen, als dass sein Sohn sich an das Aussprechen von Lügen gewöhne.
Raw fiel die positive Entwicklung auf, und er sagte zu seinem Sohn: »Deine Mutter hat sich gebessert!« Chija erwiderte: »Ich bestelle immer verkehrt.« Da sprach der Vater zum Sohn: »Das ist es, was die Leute zu sagen pflegen: ›Der aus dir hervorgeht, belehrt dich.‹« Neidlos stellte Raw damit fest, er hätte die Taktik des Sohnes anwenden sollen.
SOhn Doch wies er seinen Sohn zurecht: »Du aber tu dies nicht mehr! Denn es heißt: ›Sie lehren ihre Zunge Lügen reden‹ (Jirmejahu 9,4).« Auf den ersten Blick ist diese Anweisung unverständlich: Wenn man um des Friedens willen von der Wahrheit abweichen darf – warum sollte Chija dies nicht mehr tun? Rabbi Jeschaja HaLevi Horowitz erklärt in seinem Werk Schnej Luchot HaBrit Raws Argumentation wie folgt: Nachdem Chija dem Vater einen wahrhaftigen Weg zum Ziel gewiesen hatte, sollte der Sohn es von nun an vermeiden, zu lügen.
Eine andere Erklärung der väterlichen Zurechtweisung hat Rabbiner Menachem Ben Salomon Hame’iri gegeben. Nach Auffassung dieses Talmud-Kommentators darf jemand nur in einem solchen Fall um des Friedens willen von der Wahrheit abweichen, wenn sonst etwas Schlimmes geschehen würde.
Raw war jedoch bereit, die Unbotmäßigkeit seiner Frau zu tolerieren. Er zog es vor, lieber die Respektlosigkeit der Ehefrau zu ertragen, als dass sein Sohn sich an das Aussprechen von Lügen gewöhne.