Halacha

Erste Hilfe am Schabbat

Umstrittener Einsatz: ärztliche Hilfe am Schabbat Foto: Flash 90

Die Frage, ob ein jüdischer Arzt die Gesetze des Schabbats verletzt, wenn er am wöchentlichen Ruhetag einen Nichtjuden behandelt, ist unlängst in Israel wieder in die Schlagzeilen geraten. Die Tageszeitung Yedioth Ahronoth berichtete nämlich, dass ein prominenter Rabbiner Israels, Rabbi Ovadia Yosef, in einem Schiur Folgendes gesagt haben soll: »Wenn ein Nichtjude, der bei einem Autounfall am Schabbat verletzt wurde, ins Krankenhaus gebracht wird, muss Israel ihn nicht behandeln.«

Er soll auch auf Gesetzeslücken eingegangen sein, die es dem jüdischen Arzt dennoch ermöglichen, einen nichtjüdischen Patienten am Schabbat unter bestimmten Voraussetzungen zu behandeln.

Misskredit Doch auf jeden Fall ist es bedauerlich, dass die Halacha überhaupt von Rabbi Yosef in dieser Weise ausgelegt wurde, vorausgesetzt, das zuerst genannte Zitat gibt seine Worte korrekt wieder, was ich durchaus anzweifeln möchte. Es liegt mir fern, seine halachische Sicht zu diskutieren. Allerdings wurde dieses Gesetz jahrhundertelang irrtümlich von Gegnern des jüdischen Volkes und des Judentums dazu genutzt, die jüdische Religion in Misskredit zu bringen.

Der bemerkenswerteste Fall datiert aus dem Jahr 1965, als Professor Israel Shahak behauptete, er sei Zeuge eines Vorfalls geworden, bei dem ein Orthodoxer es nicht zuließ, dass sein Telefon genutzt wurde, um am Schabbat einen Krankenwagen für einen Nichjuden zu rufen. Shahak selbst gab nur ein Jahr später zu, dass er sich das Ganze nur ausgedacht und es keinen derartigen Vorfall gegeben habe. Vor Kurzem aber wurde genau dieser angebliche Vorfall von Christopher Hitchens in seinem Buch Gott ist nicht groß wieder aufgegriffen.

Hitchens war offenbar nicht bekannt, dass Shahaks Geschichte von ihm selbst widerrufen worden war. Aber so, wie es mit Mythen im Allgemeinen ist – sie halten sich hartnäckig. Die Tatsache, dass die einzige Geschichte, die von Gegnern des Judentums verwendet wird, um ihren Standpunkt zu beweisen, eine fiktive ist, spricht Bände.

Dogmen Nach meiner Beobachtung machen Religionen, Dogmen und Philosophien aus den Menschen keine guten oder schlechten Menschen. Vielmehr verhält es sich so, dass sich Erstere auf positive Dogmen und Philosophien konzentrieren, während Letztere auf negative stoßen, die sie auch noch besonders betonen. In diesem Fall ist es genau das Gleiche. Es gibt eine lange Liste von prominenten Rabbinern aus Vergangenheit und Gegenwart, die mit der Position von Rabbi Yosef in keiner Weise übereinstimmen.

Die wichtigste Autorität, die jüdische Ärzte ausdrücklich dazu verpflichtete, Nichtjuden am Schabbat zu behandeln, war ein berühmter Rabbiner aus dem vorigen Jahrhundert, Rabbi Moshe Feinstein. Daneben hat der ehemalige Oberrabbiner Israels, I.J. Unterman, ausdrücklich angeordnet, dass alle jüdischen Ärzte verpflichtet seien, Nichtjuden auch am Schabbat zu behandeln.

In der Tat ist dies ein jüdisches Grundprinzip. Die jüdischen Gelehrten haben es lange als einen übergreifenden Glaubenssatz angesehen, dass »alle Wege (der Tora) Wege der Freundlichkeit« seien, »und alle ihre Pfade sind Frieden« (Sprüche 3,17).

Manöver Im Laufe der Jahrhunderte haben sich Rabbiner dieses Prinzip als ethischen Grundsatz zu eigen gemacht, wenn es um den Beschluss eines Gesetzes ging. So auch in diesem Fall. Um mit einem »ethischen Korrektiv« einwirken zu können, verwendeten die Rabbiner ein »mutiges und geniales« juristisches Manöver, um das biblische Gesetz komplett zu »überschreiben«, das die Behandlung von Nichtjuden durch jüdische Ärzte am Schabbat zu verbieten scheint (Zitate aus einem Artikel des ehemaligen britischen Oberrabbiners Immanuel Jakobovits).

Dieser Auffassung nach ermöglicht es das Judentum jüdischen Ärzten nicht nur, Nichtjuden am Schabbat zu behandeln. Es verpflichtet sie vielmehr dazu, gerade dieses zu tun. Zwar mag es einige geben, die nicht der Meinung sind, die Prinzipien von »Frieden und Freundlichkeit« seien absolut vorrangig im Judentum. Doch beinhaltet ihre Sicht keinen Aspekt dessen, wofür ich das Judentum liebe und warum ich daran glaube.

Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.

www.levibrackman.com

Berlin

Von Generation zu Generation

Am Donnerstag fand in Berlin die feierliche Ordination von zwei Rabbinerinnen sowie sechs Kantorinnen und Kantoren statt. Doch auch der monatelange Streit um die liberale Rabbinatsausbildung in Deutschland lag in der Luft

von Ralf Balke  06.09.2024

Potsdam/Berlin

Neue Stiftung für Ausbildung von Rabbinern nimmt Arbeit auf

Zentralratspräsident Schuster: »Die neue Ausbildung öffnet wichtige internationale Horizonte und Netzwerke innerhalb des liberalen und konservativen Judentums«

von Yvonne Jennerjahn  06.09.2024 Aktualisiert

Schoftim

Das Wort braucht auch die Tat

Warum Gerechtigkeit mehr als nur leeres Gerede sein sollte

von Rabbiner Alexander Nachama  06.09.2024

Talmudisches

Bedürfnisse der Bedürftigen

Was unsere Weisen über zinslose Darlehen lehrten

von Yizhak Ahren  06.09.2024

Sanhedrin

Höher als der König

Einst entschieden 71 Gelehrte über die wichtigsten Rechtsfragen des Judentums. Jeder Versuch, dieses oberste Gericht wiederaufzubauen, führte zu heftigem Streit – und scheiterte

von Rabbiner Dovid Gernetz  06.09.2024

München

Rabbiner offerieren »Gemeindepaket«

Mit besonders auf kleine Gemeinden abgestimmten Dienstleistungen will die Europäische Rabbinerkonferenz halachische Standards aufrechterhalten

 05.09.2024

Re’eh

Der Weg ist das Ziel

Warum man sich nie unvorbereitet auf die Suche nach Verborgenem machen sollte

von Vyacheslav Dobrovych  30.08.2024

Talmudisches

Essen übrig lassen

Was unsere Weisen über den Umgang mit Wirten lehrten

von Rabbiner Avraham Radbil  30.08.2024

Revolutionäre Rabbiner

»Prüfe die Dinge, und du wirst sie erkennen«

Die Schriften von Rabbiner Menachem Meiri zeigen, dass Juden bereits im Mittelalter das Verhältnis zu ihren nichtjüdischen Nachbarn neu definierten

von Sophie Bigot Goldblum  28.08.2024