Interview

»Erst im Mittelalter wegerklärt«

Herr Stemberger, Sie halten im März auf einer Tagung in Berlin einen Vortrag über »Rabbinische Positionen zu Wundern und Wundertätern«. Was kennzeichet diese?
Es geht dabei hauptsächlich um die Zeit seit der Zerstörung des Tempels im Jahr 70 n.d.Z. bis etwa zum Jahr 1000. Wesentlich ist, dass damals biblische Wunder allgemein als solche akzeptiert und nicht mit etwaigen natürlichen Ursachen wegerklärt wurden, so wie dies später geschah. Wichtig ist aber auch, dass aus rabbinischer Sicht die großen biblischen Wunder von Gott bereits zu Beginn der Schöpfung vorbereitet waren. Sie waren kein nachträgliches Eingreifen Gottes in sein Werk. In erster Linie geht es dabei um den Gottesbegriff.

Welche Wunder sind aus Ihrer Sicht im Judentum die wichtigsten?
Die Rabbinen befassen sich vor allem mit den wunderbaren Ereignissen beim Durchzug durch das Schilfmeer und bei der Wanderung der Israeliten durch die Wüste. Beim Durchzug durch das Rote Meer auf der Flucht vor den Truppen Pharaos öffnet das Meer auf Gottes Geheiß für die zwölf Stämme Israels zwölf Wege durch das beiderseits der Israeliten zu Mauern erstarrte Wasser. Schon in der Schöpfungswoche bereitgestellt ist etwa der Brunnen, um den Miriam für Israel gebetet hatte und der die Israeliten auf wundersame Weise während der 40 Jahre der Wüstenwanderung begleitete. Ebenfalls von Anfang der Schöpfung bereitgestellt ist der Widder, der von Abraham anstelle Isaaks im 1. Buch Moses geopfert wird. Dieses für das Judentum sehr zentrale Rettungswunder ist also nicht ein nachträgliches Abrücken Gottes von seiner Forderung nach Menschenopfern, sondern eine Erprobung des Gehorsams Abrahams.

Inwiefern unterscheidet sich das Verständnis von Wundern in der Zeit der Rabbinen von den biblischen Wundern ?
Generell wurden Wunder später viel mehr im Sinne von »Erhörungswundern« gedeutet. Ein frommer Rabbi oder ein Charismatiker wie Choni der Kreiszieher beteten erfolgreich um Regen oder Heilung von Krankheit, wirkten aber selbst keine Wunder. In späterer Zeit, im Mittelalter, wurden viele Wunder aber auch, beispielsweise bei Maimonides, sehr rational (weg)gedeutet. Dabei gibt es durchaus Parallelen zu christlichen Auslegungen späterer Zeit, die ein Festhalten an den Erzählungen der Bibel mit Rationalismus verbinden. Doch neben den rationalistischen jüdischen Philosophen des Mittelalters gab es auch einflussreiche traditionelle Meister wie Raschi, der in dieser Hinsicht ähnliche Positionen wie das frühere, also rabbinische Judentum vertrat.

Was sind die Unterschiede des Wunderbegriffs im Judentum und im Christentum?
Interessanterweise haben beide Religionen in dieser Hinsicht vor allem sehr viel gemeinsam: Man betet für den Erhalt des Lebens, für Nahrung und so weiter – das eigentliche Wunder liegt sowohl für das Judentum wie für das Christentum im Alltag. Im Judentum kommt das zum Beispiel im Morgengebet zum Ausdruck, wenn man Gott nach dem Erwachen für die Auferweckung aus dem Tode dankt; Auferstehung wird damit zu einer täglichen Erfahrung.

Das Gespräch führte André Anchuelo.

Günter Stemberger:
Der Österreicher war von 1977 bis zu seiner Emeritierung 2009 Professor für Judaistik an der Universität Wien und hat zahlreiche Bücher zum Judentum veröffentlicht. Stemberger wird auf der Tagung »Wunder – Wundertäter – Wundergeschichten im Judentum und Christentum« sprechen, die die Evangelische Akademie zu Berlin vom 19. bis
21. März in der deutschen Hauptstadt veranstaltet.

Infos und Anmeldung: www.eaberlin.de

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