Das 5. Buch Moses Dewarim und die gleichnamige Parascha beginnen mit folgenden Worten: »Dies sind die Reden, die Mosche an ganz Israel diesseits des Jordans in der Wüste (…) gehalten hat«. Danach beginnt die letzte Rede und das Vermächtnis Mosches an das Volk Israel. Es ist nicht nur wichtig und bedeutend, weil es seine letzte ist, sondern weil sie das Volk auf den Einzug ins Gelobte Land vorbereitet. Mosche ist zu diesem Zeitpunkt bewusst, dass er selbst das Land niemals betreten wird.
Die Rede ist eine Wiederholung der Geschichte der Israeliten in der Wüste. Mosche spricht von Rückfällen und Verlusten, aber auch von Erfolgen. Gleichzeitig erwähnt er Ratschläge und Gesetze, die dem Volk die Zukunft erleichtern sollen.
bruder Mosche sagt, sie würden in Kürze in Kanaan einziehen, doch er werde nicht bei ihnen sein. Mit G’ttes Hilfe würden sie dort ein jüdisches Land errichten. Sie sollen ihr Leben nach den Regeln der Tora formen. Um ihre Ziele erfolgreich zu erfüllen, sollen sie auf Folgendes achten: »Hört zwischen euren Brüdern und richtet nach Gerechtigkeit die Streitfälle, die einer mit seinem Bruder oder mit einem Fremdling hat« (5. Buch Moses 1,16). Das heißt, sie sollen schon am Beginn ihres Weges ins Gelobte Land einander zuhören. Denn ohne Aufmerksamkeit, wird sich kein neues Land, kein neuer Staat bilden lassen.
Mosche hat den wunden Punkt, der das Leben in der Gesellschaft erschwert, genau getroffen. Das hebräische Wort »lischmoa« heißt übersetzt »hören«, damit ist gleichzeitig auch »zuhören« gemeint. Zuhören heißt aber auch, die Meinung des Gesprächspartners zu verstehen.
Mit »leha’asin« ist genau das beschriebene Zuhören gemeint. Im Hebräischen hat das Wort »leha’asin« die gleiche Wurzel wie das Wort »Isun«, was so viel wie Ausgleich bedeutet. Und dies wiederum kommt von dem Wort »Osen«, auf Deutsch »Ohr«, in dem sich der Gleichgewichtssinn des Menschen befindet.
Balance Hören und Zuhören bedeutet, ein Gleichgewicht zwischen den Argumenten herzustellen. Nur so erreichen wir einen Zustand des Ausgleichs und der Harmonie zwischen den Menschen. Wir besitzen einen Mund und zwei Ohren, ein Sinnbild dafür, dass wir auf ein von uns angeführtes Argument mindestens zwei andere Auffassungen unserer Gesprächspartner hören müssen, um für uns einen Ausgleich zu schaffen.
Raschi gibt dazu einen besonderen Hinweis: Das Verb »lischmoa« (hören) ist hier in der Präsens-Form schamoa geschrieben, also in der Gegenwart. Das heißt: Die Verpflichtung zu hören gilt immer.
Ein zusätzlicher Aspekt ist, dass in dem Vers (1,16) das Zuhören zwischen den Brüdern hervorgehoben wird. Grundsätzlich ist der Mensch nicht bereit zuzuhören und Argumente anderer widerstandslos aufzunehmen. Er steht für sich allein da. Gibt es jedoch eine Bindung zwischen zweien, wie hier den Brüdern, so ist es bedeutend einfacher, die Meinung des anderen zu akzeptieren. Denn der Zuhörer hat eine Bindung zum anderen und ist kein Einzelgänger mehr, sondern Teil des Ganzen.
Rechtsprechung Unser Vers (1,16) bezieht sich in erster Linie auf die Berufsgruppe der Richter. Es gibt zahlreiche Gesetze, die aus diesem Vers entstanden. So sagte Rabbi Chanina, dass bei einem Prozess alle Beteiligten gleichzeitig anwesend sein müssen. Das Gericht darf nicht eine der beiden Streitparteien anhören, wenn die gegnerische Seite abwesend ist. Es steht geschrieben: »zwischen euren Brüdern«, das weist darauf hin, dass beide anwesend sein müssen. Im Talmud wird die Frage gestellt, warum nicht erst einer allein befragt werden kann. Die Antwort: Kommt jemand und trägt sein Argument vor, so würde sich der Richter der ersten gehörten Meinung eher anschließen, denn zu diesem Zeitpunkt gibt es noch keine Gegendarstellung. Wenn der Richter dann den Gegner anhört, ist er in seiner freien Meinungsbildung behindert.
Doch nicht nur der Richter ist gemeint, sondern alle Menschen. Jeder muss Entscheidungen fällen, seine Meinung äußern, Kritik üben. Man soll sich in solchen Situationen verhalten wie ein Richter: Er muss zuhören, um richtig urteilen zu können.
Gleichheit In 5. Buch Moses 1,17 heißt es: »Ihr sollt im Gerichtsverfahren kein Ansehen der Person kennen. Den Geringsten hört wie den Größten an.« Wieder auch hier der Hinweis auf das Hören. Im Talmud lernen wir an diesem Vers noch weitere Punkte: Mit den Worten »Geringster« und »Größter« kann zum einen der Stand der Parteien gemeint sein. Es ist die unbedingte Pflicht, unabhängig vom Stand der Person zu einem gerechten Urteil zu kommen.
Die Worte »Geringster« und »Größter« können aber genauso gut ein Hinweis auf die Menge des Streitwerts sein. Auch in Fällen mit einem sehr geringen Streitwert ist dem Rechtsfall genauso viel Aufmerksamkeit – die Kunst des Zuhörens – zu schenken wie bei großen Summen. Und auch hier betrifft es nicht den Richter allein, sondern auch uns, denn wir sind in unserem täglichen Leben auch Richter.
Vor seinem Tod sieht Mosche es als angebracht an, sein Volk nochmals auf dieses Verhalten hinzuweisen. Er war es, der sich zeit seines Lebens voll für alle einsetzte. Er spricht in dieser letzten Rede aus seinen bitteren Erfahrungen vom Zerschlagen der ersten Tafeln mit den Zehn Geboten und dem Goldenen Kalb. Zu alldem wäre es nicht gekommen, wenn jeder sich bemüht hätte, dem anderen zuzuhören.
Da wir die Nachfahren dieser Geschichte sind, soll diese Rede auch für uns immer aktuell bleiben und Mosches Rat gelten. Auch wir sollen uns zu Herzen nehmen zuzuhören, um ein gerechtes Urteil zu finden, denn nur das ist ein Grundstein unserer Gesellschaft und sichert uns ein Leben im Gleichgewicht.
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Duisburg – Mülheim – Oberhausen.