Wann wurde zum allerersten Mal der Auszug aus Ägypten gefeiert? Ja, es war tatsächlich noch in Ägypten! Im 2. Buch Mose 12 beschreibt die Tora explizit, wie G’tt den Israeliten durch Mosche die Anweisung gibt, noch in Ägypten, vor dem Auszug, zum ersten Mal Pessach zu feiern. Viele der da erwähnten Vorschriften werden die Pessachfeste des jüdischen Volkes jahrhundertelang begleiten, zum Teil bis zur Zerstörung des Zweiten Tempels (wie etwa die Vorschriften zum Pessachopfer) oder bis zum heutigen Tage, wie das Essen von Mazzot und Maror (Bitterkraut).
Einige Vorschriften jedoch waren nur für dieses eine Pessachfest in Ägypten gedacht und wurden nur da ausgeführt. So sollte ein Schaf – einmalig – vier Tage lang ins Haus genommen werden und danach, wie auch später üblich, am 14. Nissan geschlachtet, ja geopfert werden. Daraufhin soll dessen Blut – ebenfalls einmalig und nur damals in Ägypten – an die Türpfosten der Häuser gestrichen werden. Das werde dann beim Schlagen der ägyptischen Erstgeborenen von G’tt gesehen, schreibt die Tora, und die entsprechenden Häuser werden verschont bleiben (12, 3–7; 13). Das Fleisch des Pessachopfers sei weder roh noch gekocht, sondern als ganzes Stück über offenem Feuer zu braten – eine Vorschrift, die auch in späteren Generationen gelten wird.
HINTERGRUND Welche Idee könnte diesen besonderen Vorschriften zugrunde liegen, und warum waren manche nur einmalig für das Pessachfest in Ägypten gedacht?
Laut unseren Weisen galt das Schaf den Ägyptern als Gottheit und heiliges Tier. Dies erklärt, warum es ihnen schon zu Josefs Zeiten ein Gräuel war, mit den Hebräern zu essen, da diese Viehhirten waren (1. Buch Mose 43,32, explizit in der Onkelos-Übersetzung), und auch das Argument von Mosche, die Ägypter würden die Israeliten steinigen, wenn diese, wie von Pharao vorgeschlagen, die Tiere vor ihren Augen opfern würden (2. Buch Mose 8,22).
Laut G’ttes Anleitung für das Pessachopfer sollte also Folgendes zum Ausdruck gebracht werden: »Zeigt, dass ihr vor den Ägyptern keine Angst mehr habt und sie nicht mehr Herr über euch sind! Nehmt Schafe, ihre Gottheit, und haltet sie tagelang in den Häusern, wo sie laut vor sich hinblöken werden. Dann schlachtet ihr sie vor den Augen der Ägypter, streicht das Blut offen sichtbar an eure Türen und grillt das Fleisch am Stück über offenem Feuer, sodass jeder in der Nachbarschaft den Geruch wahrnehmen kann und verstehen wird, dass hier das Fleisch von Schafen gebraten wird.«
ablauf Diese Erklärung scheint sich schlüssig und nahtlos in den Ablauf der Befreiung aus der Sklaverei einzufügen. Doch eine Stelle wirkt unklar: »Und das Blut soll euch zum Zeichen an den Häusern sein« (12,13). Der mittelalterliche Kommentator Raschi führt zu dieser Stelle die Interpretation unserer Weisen an: »Euch zum Zeichen – und nicht anderen zum Zeichen: Daraus lernen wir, dass sie das Blut nur von innen anstrichen.«
Wenn es darum ging zu zeigen, dass die Israeliten nun keine Angst vor den Ägyptern haben, wäre es doch angebracht, das Blut nach außen anzustreichen, und nicht nach innen, wo es die Ägypter gar nicht sehen konnten?
Eine weitere Frage ergibt sich aus einem wesentlich bekannteren zu Pessach gehörigen Brauch, dem Verzehr der Mazzot. Diese werden bis zum heutigen Tag als zentrales Element des Sederabends verspeist und sollen uns daran erinnern, dass wir beim Auszug aus Ägypten keine Zeit mehr hatten, den Teig zu Sauerteig werden zu lassen, und ihn deshalb ungesäuert auf den Weg mitnahmen.
Auf das allererste Pessachfest in Ägypten bezogen, erscheint die Begründung jedoch paradox: Noch saßen die Israeliten in Ägypten fest, noch hatte Pharao sie nicht freigelassen, und trotzdem erhielten sie von G’tt die Anweisung, schon in der Nacht vor dem Auszug Mazzot zu essen. Wofür? Als Zeichen für etwas, was sich erst am Morgen danach, beim Auszug aus Ägypten, ereignen wird? Sollten sie etwa der Zukunft gedenken?
vorschrift Eine andere Vorschrift, die wiederum nur für das erste Pessachfest in Ägypten galt, wirft eine weitere Frage auf: »Und so sollt ihr es (das Fleisch des Pessachopfers) essen: »Eure Lenden gegürtet, eure Schuhe an euren Füßen und eure (Geh-)Stöcke in euren Händen, und hastig sollt ihr es essen.« Auf den ersten Blick ging es hierbei um die Aufforderung, bereit zur Abreise zu sein, schließlich könnte es jeden Moment losgehen. Der zweite Blick fällt jedoch auf eine weitere Anweisung, die ebenfalls noch vor dem Ereignis erfolgte: »Ihr aber geht keiner aus der Tür seines Hauses bis zum Morgen« (12,22).
Demzufolge wussten die Israeliten, dass der tatsächliche Auszug aus Ägypten nicht vor Tagesanbruch beginnen würde (wie es ja dann auch geschah, vgl. 12,41), und waren zudem noch angewiesen, während der ganzen Nacht nicht einmal einen Fuß vor die Tür zu setzen.
Warum dann diese Eile? Es hätte doch ausgereicht, sich in Ruhe die Schuhe anzuziehen, die Lenden zu gürten, den Stab in die Hand zu nehmen, und sogar auch, noch richtige Brote aus Sauerteig als Reiseproviant vorzubereiten?
ebenen Diese Fragen lassen sich auf zwei Ebenen beantworten: auf einer menschlich-psychologischen und einer historiosophisch-ideologischen. Auf der menschlich-psychologischen Ebene kennen wir, oft auch aus persönlicher Erfahrung, das Problem einer Deadline oder eines Ultimatums.
Wenn eine Arbeit abgegeben, ein Zug oder Flugzeug erreicht werden soll oder auch einfach nur der Schabbatbeginn naht, besteht die Gefahr, dass vieles auf den letzten Drücker geschieht und es hektisch wird.
Stellen wir uns vor, die Anweisung wäre gewesen, sich am Morgen für den Auszug bereitzuhalten. Wie hätte es wohl ausgesehen, wenn die einen noch mit Packen und Backen, die anderen mit dem Wecken der Kinder beschäftigt gewesen wären und sich nur ein kleiner Teil des Volkes rechtzeitig eingefunden hätte? Wohl erbärmlich. So durften die Erlösung und das historisch einmalige Ereignis nicht vonstattengehen! Stolz und erhobenen Hauptes sollten die Heerscharen G’ttes vollzählig bereit sein, Ägypten zu verlassen (12,41 und 50–51 sowie 14,8).
UNTERWERFUNG Dies führt uns zur zweiten, der historiosophisch-ideologischen Ebene: Damit die Erlösung tatsächlich stattfinden kann, braucht es zuerst einen inneren Zustand des Erlöstseins. Wenn sich die israelitischen Sklaven innerlich nicht von der Unterwerfung vor den ägyptischen Herren lösen können, kann auch G’tt sie nicht erlösen, der physische Auszug aus Ägypten reicht dafür nicht aus. Denn Freiheit und Unabhängigkeit beginnen von innen.
Deshalb sollten die Israeliten das Blut des Pessachopfers nach innen als Zeichen anbringen, um selbst zu verstehen, dass sie nun keine Sklaven der Ägypter mehr sind. Deshalb mussten sie schon von Beginn der Feier an vollkommen bereit sein, sich jederzeit auf den Weg zu machen. Die innere Bereitschaft sollte widerspiegeln, dass sie Ägypten schon längst verlassen haben – ein Zustand, der durch die äußere Erlösung nur noch vervollständigt wurde.
Auch der Verzehr der Mazzot in Ägypten sollte darauf hinweisen, dass die Erlösung jederzeit plötzlich eintreten kann, wenn die Bereitschaft dafür besteht: »Denn in Eile bist du aus Ägypten ausgezogen« (5. Buch Mose 16,3). Deswegen sollte auch das Pessachopfer in Eile gegessen werden (2. Buch Mose 12,11).
SCHIR HASCHIRIM An Pessach wird in vielen Gemeinden das Hohelied, Schir Haschirim, zitiert, ein Liebeslied, das die mitunter komplizierte Liebesgeschichte zwischen G’tt und Seiner Geliebten, dem Volk Israel, allegorisch beschreibt. In dessen 5. Kapitel klopft der Liebende (G’tt) spätabends an die Tür der Geliebten, jedoch ist diese zunächst nicht bereit, die Tür zu öffnen, da sie schon gewaschen, eingecremt und im Nachthemd zu Bett gegangen ist. Erst als sie das Klopfen wiederholt zum Öffnen drängt, erhebt sie sich vom Nachtlager und öffnet die Tür.
In der Zwischenzeit ist der Liebende jedoch nicht mehr zu sehen, und obwohl sie auf die Straßen eilt und nach ihm sucht, findet sie ihn nicht, sondern stattdessen die Stadtwächter, die ihr Schläge versetzen.
Diese Passage hat Rabbiner Joseph Ber Soloveitchik veranlasst, einen berühmten Aufsatz unter dem Titel »Kol dodi dofek« (Die Stimme meines Geliebten klopft an) zu verfassen und darin die Schritte der Erlösung zu beschreiben. Wäre die Geliebte, das Volk Israel, nicht zu träge gewesen, die Stimme des Liebenden ohne Zögern zu erwidern, hätte es statt schwerer Schläge direkt die Zusammenkunft mit dem Geliebten, die Erfüllung der Liebe und der Erlösung erhalten.
Deshalb hat diese Botschaft nichts an Aktualität eingebüßt: Für die lang ersehnte Erlösung durch G’tt ist es unabdingbare Voraussetzung, sie tatsächlich jederzeit zu erwarten, sie sich herbeizuwünschen und die Möglichkeit stets praktisch willkommen zu heißen – ja, auch konkrete Schritte hierfür zu unternehmen. Denn die Erlösung entspricht zunächst einmal dem inneren Zustand und beginnt in Wirklichkeit von innen heraus.
Der Autor ist Oberrabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Wien.