Chukat

Erinnerung an einen Fehler

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Chukat

Erinnerung an einen Fehler

Gott befahl Mosche, eine Schlange aus Kupfer herzustellen. Was verbarg sich hinter diesem Auftrag?

von Rabbiner Bryan Weisz  12.07.2024 08:58 Uhr

Jeder kennt es: das Schild vor Apotheken oder auf Krankenwagen, das eine Schlange zeigt, die sich um einen Stab windet. Es gilt als Symbol für medizinische oder pharmazeutische Berufe. Sein Name, Äskulapstab, bezieht sich auf Asklepios, den Gott der Heilkunde in der griechischen Mythologie. Doch möglicherweise ist dieses Symbol der göttlichen Heilung deutlich älter.

Denn es gibt eine Verbindung zum Judentum, die in der Tora erzählt wird: Trotz der vielen Wunder, die die Kinder Israels während ihrer Wanderung durch die Wüste erlebt hatten, machte sich erneut Ernüchterung breit, weshalb sie zu klagen begannen. »Die Leute sprachen gegen Gott und Mosche: Warum hast du uns aus Ägypten heraufgeführt, damit wir in dieser Wüste sterben? Es gibt doch keine Nahrung und kein Wasser, und unsere Seele ekelt sich vor der dürftigen Nahrung« (4. Buch Mose 21,5).

Nachdem sie das Manna gegessen und das Wasser getrunken hatten, das ihnen auf so wundersame Weise zur Verfügung gestellt worden war, befürchteten sie, in der Wüste den sicheren Tod zu erleiden, weil diese Landschaft zu öde ist, um Landwirtschaft zu betreiben. Daher ihr Klagen.

Im Anschluss an diese Episode kamen giftige Schlangen, griffen die rastenden Kinder Israels an und fügten den Menschen Bisswunden zu, die vielen einen brennenden Schmerz bereiten, woraufhin nicht wenige von ihnen starben.

Jeder, der die Schlange ansah, sollte geheilt werden und am Leben bleiben

Als die Kinder Israels erkannten, dass es vielleicht keine gute Idee gewesen war, sich bei Moses zu beschweren, flehten sie Gott an, der Schlangenplage Einhalt zu gebieten. Daraufhin wurde Mosche von Gott beauftragt, aus Kupfer eine Schlange herzustellen und sie an einer Stange zu befestigen, damit sie möglichst gut sichtbar sei. Jeder, der sie anblickte, sollte geheilt werden und am Leben bleiben.

Diese Episode mag uns befremden. Was sollte der Grund für diesen Befehl sein, eine Schlange anzublicken? Nach der Vorgeschichte, die zu dieser Situation geführt hat, erscheint es recht seltsam, dass ausgerechnet der Anblick einer Kupferschlange in irgendeiner Weise helfen sollte. Und wie konnte Gott einerseits geschnitzte Bilder verbieten und nun von Mosche verlangen, eine Kupferschlange zu formen?

Das erscheint auf den ersten Blick widersprüchlich – und dennoch liefert uns das Ganze eine wichtige spirituelle Lektion. Es mag für eine Person sinnvoll sein, sich eine Tora, Menora oder sogar einen Aron Hakodesch anzuschauen, aber was würde es nützen, auf eine Schlange aus Kupfer zu blicken?

Der Ewige hatte die Kinder Israels nicht in die Wüste gebracht, damit sie dort sterben

Rabbi Samson Raphael Hirsch (1808–1888) liefert eine Erklärung dazu. So seien die Kinder Israels in den vorangegangenen 30 Jahren ihrer Wanderung durch die Wüste ständig Gefahren ausgesetzt gewesen. Aber so etwas wie die Attacken der Schlangen hatten sie noch nie erlebt. Überhaupt findet sich bis zu diesem Moment kein einziger Hinweis auf einen Schlangenbiss, obwohl es in einer solchen Region normalerweise von Reptilien dieser Art nur so wimmelt. Der Allmächtige hatte sie offensichtlich in der ganzen Zeit in der Wüste nie im Stich gelassen. Denn Er hatte die Kinder Israels nicht dorthin gebracht, damit sie sterben. Ganz im Gegenteil, Er hatte sie bei ihrer Wanderung immer im Blick und beschützt.

Der Befehl an Mosche, eine Schlange aus Kupfer herzustellen und sie an einer Stange zu befestigen, sollte den Kindern Israels vielmehr als Gedächtnisstütze für ihr Fehlverhalten dienen, trotz der ständigen Wunder die Quelle ihres Schutzes vergessen zu haben.

Unsere Weisen erklären ferner, dass die Kupferschlange deshalb an einer »hohen Stange« appliziert wurde, damit sie die Herzen der Juden zu Gott führen kann. »Tötet die Schlange oder gibt sie Leben? Vielmehr wurden sie geheilt, solange Israel nach oben blickte und seine Herzen dem Vater im Himmel unterwarf.« Die Botschaft der Schlange war also folgende: Sie sollte den Kindern Israels begreifbar machen, wer all die Jahre in der Wüste sich um ihren Schutz gekümmert hatte, und zwar der Allmächtige.

Manchmal fragen wir uns, wo Gott ist

Manchmal fühlen wir uns in unserem Leben im Stich gelassen. Die Dinge laufen nicht gut. Und wenn wir einen schlechten Tag haben oder sogar eine schlechte Woche, fragen wir uns manchmal, wo Gott ist. Wir fragen Gott: Wo bist Du?

In solchen Momenten müssen wir uns an die Botschaft der Schlangen erinnern. Wie viele Schicksalsschläge, wie viele unangenehme Dinge hätten uns passieren können, von denen wir nicht einmal wissen, dass der Ewige uns vor ihnen beschützt hat! Wir haben all diese vielleicht nicht mit eigenen Augen gesehen, aber wer weiß, welche Krankheiten, Verluste oder Katastrophen uns hätten passieren können. Gott aber hat uns beschützt.

Wir wurden nicht im Stich gelassen oder vergessen. Und unsere Geschichte als Juden zeigt uns, dass Gott über uns wacht. Auch in den Momenten, in denen nicht alles glattläuft, müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass der Ewige jeden Tag und mit jedem Atemzug über uns wacht. Jeden Tag danken wir Gott mit der Amida, dem Achtzehnbittengebet, für diese verborgenen Wunder, die in unserem Leben ständig geschehen, auch wenn wir uns ihrer nicht immer bewusst sind.

Unsere persönliche Beziehung zu unserem unendlichen Gott bietet uns eine unmittelbare und innige Verbindung mit dem Allmächtigen und hilft uns zu verstehen, woher Segnungen kommen.

Und der Blick auf die Schlange? Er war ein Moment der Teschuwa und der Selbstbesinnung. Dadurch wurden die Kinder Israels daran erinnert, was der Allmächtige in jedem Moment getan hatte, um sie zu beschützen. Sie erkannten dies, und mit der Plage war Schluss – eine Erinnerung daran, dass unsere endgültige Erlösung wie alle verborgenen Wunder von Gott kommen.

Der Autor ist Rabbiner in London.

inhalt
Der Wochenabschnitt Chukat berichtet von der Asche der Roten Kuh. Sie beseitigt die Unreinheit bei Menschen, die mit Toten in Berührung gekommen sind. In der »Wildnis von Zin« stirbt Mosches Schwester Mirjam. Im Volk herrscht Unzufriedenheit, man wünscht sich Wasser. Mosche öffnet daraufhin eine Quelle aus einem Stein – aber nicht so, wie der Ewige es geboten hat. Mosche und Aharon erfahren, dass sie deshalb das verheißene Land nicht betreten dürfen. Erneut ist das Volk unzufrieden: Es ist des Mannas überdrüssig, und es fehlt wieder an Wasser. Doch nach der Bestrafung bereut das Volk, und es zieht gegen die Amoriter und die Bewohner Baschans in den Krieg und erobert das Land.
4. Buch Mose 19,1 – 22,1

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