Ein uraltes antijüdisches Vorurteil handelt von dem angeblich »strafenden G’tt des Alten Testaments«, der abschätzig dem barmherzigen G’tt des Neuen Testaments gegenübergestellt wird.
Dabei ist kinderleicht zu erkennen, wie unsinnig diese Behauptung ist. Bereits ein Synagogenbesuch an unserem höchsten Feiertag, dem Jom Kippur, genügt, um zu lernen, dass ein zentraler Bestandteil des Feiertagsg’ttesdienstes, nämlich die Lesung der Jona-Geschichte am Nachmittag, dieses Vorurteil zweifelsfrei widerlegt.
Jona – g’ttesfürchtig und gerecht – soll auf Geheiß G’ttes in die Stadt Ninive reisen und deren Bewohner warnen: Nur wenn sie bereit wären, ein Leben jenseits von Übel und Schlechtigkeit zu führen, könnten sie sich retten und ihre Stadt vor dem Untergang bewahren. Doch Jona versuchte, sich dem g’ttlichen Auftrag zu entziehen, und flüchtete als Passagier auf ein Schiff.
Wal Dieses aber geriet in einen starken Sturm, bis die Seeleute den Fremden Jona über Bord warfen. Und tatsächlich: Der Sturm legte sich, und die See wurde wieder ruhig. Des einen Freud’ ist des anderen Leid. Denn Jona wurde von einem großen Fisch verschluckt, den wir uns in unserer Fantasie stets als Wal vorstellen, obwohl die Schrift selbst kein Wort darüber verliert, um was für einen Fisch es sich handelt.
Und nebenbei: Ein Wal ist kein Fisch, sondern ein Säugetier! So oder so: Jona soll im Bauch des Fisches jedenfalls drei Tage und Nächte gebetet haben, bevor seine Worte wohl erhört wurden und der Fisch ihn unversehrt an Land spuckte. Angesichts dieser Erfahrung ergab Jona sich der Anweisung des Ewigen und überbrachte den Bewohnern Ninives die g’ttliche Botschaft.
Image Was auch immer es gewesen sein mag, das die Bewohner der Stadt mit ihrem miserablen Image zur Umkehr bewogen haben könnte, sie hörten schließlich auf seine Warnung, entsagten ihrem bisherigen Leben und kehrten in Reue um. Daraufhin sei ihnen vergeben worden – in allerletzter Sekunde. Wo nun, fragen wir uns, ist hier der strafende G’tt? Wo Erbarmungslosigkeit, Grausamkeit oder Willkür?
Die Geschichte Jonas, die ein Kernstück von Jom Kippur bildet, vermittelt fundamentale Grundsätze des Judentums.
Vielleicht mag Jona sich das auch gefragt haben, denn es heißt, dass er über den Erfolg seines Auftrags keineswegs glücklich gewesen sein soll. Vielmehr habe er gemutmaßt, die Bewohner von Ninive könnten ihn nun für einen Lügner halten, nachdem ihnen für all das Schlechte in ihrer Vergangenheit nicht die geringste Strafe widerfahren sei.
Baum Jona war also angefressen und schlecht gelaunt. Und zu allem Überfluss war es auch noch ein schrecklich heißer Tag, sodass Jona sich einen Platz zum Ausruhen suchte. Die Sonne muss schon arg gebrannt haben, denn G’tt entschied sich, seinen Botschafter zu schützen, indem er einen Baum wachsen ließ, der ausreichend Schatten spenden sollte.
Jona muss in seiner Erschöpfung unter dem Baum eingeschlafen sein. Und als er am nächsten Morgen erwachte, war der Baum schon wieder weg. Wie heißt es so schön: Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen, gelobt sei der Herr. Das sah Jona allerdings anders und begann erneut, zu lamentieren und sich über das Schicksal des armen Baumes zu beklagen.
Mitleid Da sprach G’tt zu ihm: »Jona, du hast Mitleid mit einem Baum, für dessen Entstehen du nichts getan hast, und du bist traurig, weil er nicht mehr da ist. Er wuchs an nur einem Tag und verschwand in nur einer Nacht. Aber wie Mir scheint, hast du kein Mitleid mit den zwölf mal 10.000 Menschen in Ninive gehabt, und du zürnst Mir, weil Ich ihnen vergeben habe. Was sollte wohl die Existenz eines Baumes wertvoller machen als ein Menschenleben?« In diesem Moment, so heißt es, habe Jona verstanden.
Die Geschichte Jonas, die ein Kernstück von Jom Kippur bildet, vermittelt nicht nur eine Grundidee unseres höchsten Feiertages, sondern obendrein fundamentale Grundsätze des Judentums: Denn erstens glauben wir, dass G’tt, beginnend mit dem jüdischen Neujahr und der sich anschließenden zehntätigen Zeitspanne, alle Menschen – also nicht nur die Juden – richtet und am letzten Tag, dem Jom Kippur, deren Schicksale für das kommende Jahr endgültig besiegelt.
Doch unabhängig davon, wie schlecht die Menschen auch gewesen sein mögen, gibt es stets eine Möglichkeit zu Buße, Reue und Umkehr.
Tiere Zweitens: Niemand möge Pflanzen oder Tieren mehr Mitleid entgegenbringen als den Menschen, denn sie sind es, die G’tt in seinem Ebenbild schuf.
Und drittens: Alle Menschen sind im Ebenbild G’ttes geschaffen! Das heißt, es geht hier nicht um Juden oder Nichtjuden. Es geht nicht um unterschiedliche Religionen, Nationalitäten oder Völker. Der Ewige hat Jona nach Ninive geschickt, obwohl die Bewohner der Stadt nicht jüdisch waren. Er hat Gnade walten lassen, weil die Menschen sich für den richtigen Weg entschieden haben, und nicht, weil sie dem auserwählten Volk angehörten.
Gleichheit Es ist ein feuriges Plädoyer für die Gleichheit aller Menschen! Denn für G’tt zählt allein eine moralische Lebensweise und nicht die Herkunft oder die Abstammung.
Deshalb gilt: Es ist nie zu spät. Für niemanden. Denn G’tt wartet bis zum letzten Moment. Schließlich lässt Er lieber Mitleid und Barmherzigkeit walten, als zu strafen.
Der Autor ist Direktor des Landesverbandes der jüdischen Gemeinden in Hessen.