Unser Erzvater Jakow muss vor der drohenden Rache seines blindwütigen Bruders Esaw fliehen und den Wanderstab in die Hand nehmen. In der ersten Nacht, die er in der Einsamkeit der Wüste verbringt, hört er im Traum G’ttes Zuversicht spendende Stimme: »Siehe! Ich werde mit dir sein, dich allenthalben behüten, wohin du auch reist, und werde dich endlich in dieses Land zurückführen. Denn Ich werde dich nicht verlassen, bis Ich getan, was Ich dir zugesagt habe« (1. Buch Mose 28,15).
Die Worte verfehlen ihre Wirkung nicht. Am nächsten Morgen legt Jakow ein Gelübde ab: »Wenn G’tt mit mir sein und mich behüten wird auf diesem Weg, auf dem ich reise, mir Brot zu essen und Kleidung zum Anziehen schenken wird, und wenn ich auch noch wohlbehalten zu meines Vaters Haus zurückkehre, dann werde ich G’tt ewiglich als Schutzherrn anerkennen« (28, 20–21).
Flüchtlinge Ich bin sicher, dass alle, die einst das Schicksal der heimatlos gewordenen Flüchtlinge teilen mussten, diese Worte auch heute nicht ohne innere Rührung lesen oder hören werden. Viele von ihnen haben gewiss, wie einst Jakow, um ein Stück Brot und ein Gewand oder um die Aussicht auf eine unversehrte Heimkehr zu ihrer Familie ewige Dankbarkeit gelobt. Und wie wenigen gelang es dann, ihrem Gelübde treu zu bleiben!
Jakob setzt nun gestärkt seinen Weg fort. Und diese Stärkung würde er schon bald mehr als nötig haben. Sein listiger Onkel Lawan, bei dem er anschließend 14 Jahre lang als Gastarbeiter dient, spielt ihm übel mit. Jakow wird in der Hochzeitsnacht die falsche Braut, Lea, untergeschoben. Man kann sich lebhaft vorstellen, was Jakow fühlt, als er glaubt, Rachel zu heiraten, die er seit der ersten Begegnung innigst liebt – und am nächsten Morgen entdecken muss, dass er stattdessen mit Rachels älterer Schwester Lea vermählt worden ist. Seine Enttäuschung und Wut kann man gut nachvollziehen.
Wie mehrere unter unseren Erzvätern war auch der »Gastarbeiter« Jakow ein Hirte. Er hatte die Tiere seines Schwiegervaters Laban insgesamt 20 Jahre lang auf die Weide geführt. Er wertete seine harte Arbeit rückblickend: »Was wilde Tiere aus der Herde zerrissen, brachte ich dir nicht, ich musste es bezahlen; du fordertest es von meiner Hand, ob es mir nun während des Tages oder des Nachts gestohlen wurde. Am Tage verschmachtete ich vor Hitze und des Nachts vor Frost, und es kam kein Schlaf in meine Augen« (31, 39–40). Der Hirte war also Tag und Nacht im Dienst.
Das gesellschaftliche Leben dieser Hirten spielte sich am Brunnen der Gemeinde ab. Um das Wasser zu schützen, war der Brunnen mit einer mächtigen Steinplatte gesichert, die man nur mit vereinten Kräften öffnen und schließen konnte.
Beim Tränken der Herde wirkten auch Frauen mit, Hirtinnen. Dabei lernte Jakow Rachel kennen, seine spätere Frau. Er wusste, dass sie mütterlicherseits miteinander verwandt waren. Auch deshalb war er bereit, für die Familie 14 Jahre lang bei seinem künftigen Schwiegervater Lawan als Hirte zu dienen, wie es die Regeln der patriarchalen Gesellschaft damals verlangten.
Lebensform Diese Erzählung der Tora hält eine alte Lebensform fest. Spätere Epochen idealisierten die Rolle und die Aufgaben der Hirten. Sie dienten oft als Allegorie für die Beziehung zwischen G’tt und Seinem Volk, oder zwischen Lehrer und Schüler. Einer der bekanntesten Psalmen besingt: »Der Herr ist mein Hirte; mir wird nichts mangeln« (23,2). Der Prophet Jesaja schildert sogar die Erlösung aus der babylonischen Gefangenschaft mit folgenden Worten: »Er (der Herr) wird Seine Herde weiden wie ein Hirte; Er wird die Lämmer in seine Arme sammeln« (40,11).
Der Prophet Ezechiel betrachtet die Führer des jüdischen Volkes als dessen Hirten. Die Untauglichen unter ihnen werden getadelt: »Weh den Hirten Israels, die sich selbst weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden? Um die Schwachen kümmert ihr euch nicht, und die Kranken heilt ihr nicht, das Verwundete verbindet ihr nicht, das Verirrte holt ihr nicht, und das Verlorene sucht ihr nicht; sondern streng und hart herrschet ihr über sie« (34, 2–4).
Aber der Herr als Hirte seines Volkes bringt den Israeliten das Wohlergehen: »Wie ein Hirte seine Schafe sucht, wenn sie von seiner Herde verirrt sind, will Ich meine Schafe suchen und will sie erretten von allen Orten, dahin sie zerstreut waren zur Zeit, da es trüb und finster war« (34, 11–12).
jäger Mit Jakow und Esaw zeigt uns die Tora zweierlei Welten: Über Esaw lesen wir, dass er »von seinem Schwert« lebte, Jakow dagegen von seinem Hirtenstab. Der Hirte verkörperte eine friedlichere Welt, Esaw, der Jäger, oft die Gewalt. Auch das ist der Grund, warum die jüdischen Bibelausleger von jeher für Jakow Partei ergriffen. Die Kirche übernahm das Sinnbild des »guten Hirten« aus unseren Schriften – in denen aber der »goldene Hirtenstab« nicht thematisiert wurde.
Gegen Ende dieses ereignisreichen Wochenabschnitts bereitet sich Jakow – nachdem er mehr als zwei Jahrzehnte nicht zu Hause war – auf die Heimkehr nach Kanaan vor. Er berät sich mit seinen beiden Ehefrauen, die ihn in seinem Vorhaben ermuntern: Sie sagen, dass sie sich wegen des geizigen Vaters Lawan wie Fremde in ihrem Elternhaus fühlen.
Es ist bezeichnend, dass Jakow ohne die Meinung der Frauen zu keinem Entschluss gekommen wäre. Und dies trug sich nicht im feministischen Geist unseres Jahrhunderts zu, sondern im sogenannten patriarchalen Altertum. Es hebt die jüdische Auffassung hervor, die in der Hand der Frau die Seele und Weisheit im jüdischen Heim sieht.
Der Autor war von 1981 bis 2002 Landesrabbiner von Württemberg.
Inhalt
Der Wochenabschnitt Wajeze erzählt von einem Traum Jakows. Darin sieht er eine Leiter, auf der Engel hinauf- und hinuntersteigen. In diesem Traum segnet der Ewige Jakow. Nachdem er erwacht ist, nennt Jakow den Ort Beit-El. Um Rachel zu heiraten, muss er sieben Jahre für ihren Vater Lawan arbeiten. Doch der führt Jakow hinters Licht und gibt ihm Rachels Schwester Lea zur Frau. So muss Jakow weitere sieben Jahre arbeiten, bis er endlich Rachel bekommt und als reicher Mann seinen Schwiegervater Lawan verlässt.
1. Buch Mose 28,10 – 32,2