Der Legenden und Überlieferungen sind viele, doch gehen alle auf die Aussage zurück, die den sechsten Tag der Schöpfung betrifft: »Und Gott schuf Mann und Frau zugleich.« Nach der Überlieferung aus Erde (hebräisch Adama) – daher der Name Adam. Menschen hatten stets das Bedürfnis, es der Schöpfung gleichzutun, ein Wesen zu schaffen, das vor allem Diener und Retter zugleich sein konnte.
In der Bibel kommt das Wort Golem (»Rohstoff, unförmige Masse, unvollkommene Substanz«) in den Psalmen vor (139,16). Eine Legende will es sogar, dass Adam in den ersten zwölf Stunden seiner Existenz Golem genannt wurde, ein Körper ohne Namen, also ohne Seele, und auch ein Embryo kann Golem heißen.
Der menschliche Körper allein macht noch keinen Menschen. Der geheimnisvollen Überlieferungen, wie aus der Rohmasse ein beseeltes Wesen entstehen oder geschaffen werden könnte, sind viele. Überlieferungen aus talmudischer Zeit beziehen sich auf ein künstliches Wesen, andere sehen den Golem als eher spirituelle Erscheinung.
Zahlenspiele Dabei wird in der schriftlichen Überlieferung durchaus gestritten, wie die roh geformte Gestalt zum Leben erweckt wird, mit wundervollen Zahlenspielen, den Buchstaben des hebräischen Alphabets, den Zahlenwerten der Buchstaben, zumindest der ersten Hälfte; denn die zweite könnte hilfreich sein, wenn der Erschaffer des Golem nicht alle Mizwot einhält und Golem – ob gehorsam oder unbotmäßig, widerspenstig oder unheimlich selbstbestimmt – wieder zu Staub werden sollte.
Fast unendlich sind die Mutmaßungen und Überlieferungen, da viele Schriften sich im Staub der Zeit verlieren. Doch oft scheint nur die patriarchalisch-männliche Überlieferung durch die jüdische Tradi-tion, die weibliche liegt nahezu unsichtbar verborgen. Konkretere Gestalt nimmt Golem erst in Legenden und in der jüdischen Mystik nach dem 11. Jahrhundert an, wobei man in älteren Überlieferungen immer wieder Hinweise und Anspielungen finden kann.
Im Erzählten spielen das Weibliche, Selbstbewusstsein, Liebe und Geburt oft eine Rolle, und das macht es auch ungemein aufregend. Denn Golem ist ja adamgleich, er ist als erwachsener Körper da, Mann und Frau zugleich, er wächst nicht auf, wird nicht älter. Golem als Hermaphrodit, als Androgynos, beschnitten, nicht beschnitten, als erwachsene Frau? Und dann streiten sich Schriftgelehrte jahrhundertelang, ob Golem zum Minjan zählt oder in die Mikwe darf oder muss.
Gelehrte stritten sich, ob ein Golem zum Minjan zählt oder in die Mikwe muss.
Die mystisch Angehauchten und spirituell Frustrierten suchten und suchen immer nach vielversprechenden Alternativen – da soll es einen oder eine Gefährtin zum Wandern gegeben haben (aber nicht mit der Gabe des Sprechens ausgestattet), eine dynamische Hilfe für den Hausputz (natürlich unentgeltlich) oder, was aus einer Gemeindechronik in Andalusien gestrichen wurde, eine wunderschöne Golem zur nächtlichen Luststeigerung (sollte aber sehr diskret sein, was Nachbarn und Gemeinde anbelangt).
Der Träume und Legenden sind viele. In einer Überlieferung heißt es, dass der Prophet Jeremias einen Golem zur Rettung in der Not gemacht habe, doch andere meinen, dass das Bild von der Erschaffung eines Golem nur spirituelle Bedeutung habe, die einem religiösen Ritus oder gar mystischer Ekstase folgte.
Kabbala System bekam die Legende vom Golem mit der mittelalterlichen Kabbala und dem mittelalterlichen Sefer Jezira (Buch der Schöpfung), das vermeintlich ein Rezept zur Erschaffung eines Golem enthält, wozu die Buchstaben des Alphabets, deren Zahlenwert und die vielen Namen Gottes hilfreich sein könnten.
Gershom Scholem, der in Berlin aufgewachsene und in den 20er-Jahren nach Palästina emigrierte Erforscher der jüdischen Mystik, schrieb während einer Vorlesung an der Hebräischen Universität ein verbindliches »Golem-Rezept« an die Tafel. Es war ungemein vergnüglich, wie Scholem den Studenten ganz ernsthaft das Rezept erläuterte. Dass es dabei um eine literarisch-mystische Überlegung zur Schöpfungsgeschichte ging – eben Mann und Frau zugleich –, war damals den meisten nicht klar. Es war Regenzeit in Jerusalem, und nach der Vorlesung waren wir in derart mystischer Stimmung, dass wir aus dem Schlamm vor dem Universitätsgebäude auf dem Campus Givat Ram eine Figur geformt und Scholem gewidmet haben. Nächtens soll es übrigens heute immer noch in Givat Ram umhergeistern. Aber das ist auch nur wieder eine Legende.
Gershom Scholem schrieb einst ein »Golem- Rezept« für seine Studenten an die Tafel.
Der Wormser Schriftgelehrte Eleazar hat ebenfalls einen Kommentar (Ende 13./Anfang 14. Jahrhundert) zum Sefer Jezira hinterlassen. Hier sei eine Passage dieses wundersamen Textes frei übersetzt: »Es ist notwendig, unberührte Erde zu nehmen von einem Platz in den Bergen, wo niemand gepflügt hat. Und er soll kneten den Staub mit lebendigem Wasser, und er soll einen rohen Körper formen und beginnen, die Alphabete der 221 Pforten in Zahlen umzusetzen und alle Gliedmaßen einzeln mit den entsprechenden Buchstaben aus dem Buch der Schöpfung zu verbinden ...«
Im 16. Jahrhundert, so die eher moderne, in vielen Varianten überlieferte Volkserzählung, schuf Rabbi Löw in Prag, um die Juden vor Vernichtung zu retten, den Golem, dessen Reste heute noch auf dem Dachboden der alten Prager Synagoge liegen sollen. Alle Geschichten vom Rabbi Löw zeigen, dass der Körper auf völlig natürliche Weise gemäß unserer Kenntnisse des menschlichen Körpers geformt wird.
Nur ist er zunächst leblos, die Frage stellt sich, wie ihm Leben eingehaucht werden kann. Durch Sprache, meinten einige Mystiker – einfach einen der Namen Gottes –, doch kann Golem deswegen schon sprechen, gibt es allein durch die Entstehung von Golem-Er-Sie-Es schon ein Bewusstsein von sich und von den Sphären der Welt? Kann das auf mystische Art und Weise gelingen oder mit Hilfe streng wissenschaftlicher Algorithmen? Aber was ist Leben außer dem Körper, was ist Seele, was ist Wissen, was ist Gefühl? Und welches Wissen, und welches Gefühl? Doch weder Rabbi Löw in Prag noch Eleazar von Worms waren die Ersten, wie in der Literatur oft gemeint wird. Es gibt noch eine nicht ganz jugendfreie Geschichte, die darauf wartet, verfilmt zu werden.
gespielin Ein spanisch-jüdischer Gelehrter hatte bereits im 11. Jahrhundert eine höchst geheimnisvolle und wohl erfolgreiche Idee. Es handelt sich um den Dichter und Schriftsteller Salomon Ibn Gabirol, der wunderschöne Liebesgedichte schrieb. Da er in allen jüdischen Künsten bewandert war, wandte er sich der jüdischen Mystik und der alten Golem-Überlieferung zu. Allerdings wollte er einen ganz besonderen ihm helfenden Golem. Überliefert ist, dass er eine(!) Golem, eine weibliche Gefährtin, schuf, die beides war: Pflegerin und fühlend-aktive Gespielin in einsamen Nächten.
Die Überlieferung hat nur noch festgehalten, dass die prüde jüdische Gemeinde nach einiger Zeit ziemlich uneinsichtig darauf bestand, dass Gabirol seine Golem wieder in Staub, Erde und diverse Teile zurückverwandelt. Überliefert ist auch, dass sie der jungen jüdischen Stadtschönheit dermaßen geähnelt habe, dass diese beim Anblick ihrer Doppelgängerin in eine tiefe emotionale Krise fiel.
Der Zorn der Gemeinde hatte allerdings auch damit zu tun, dass Golem nicht dem weiblichen Körperrhythmus entsprach, keine Menstruation kannte und folglich nicht die Mikwe besuchte. Gabirols Golem war noch unvollkommen, doch schuf er damit eine Vorlage, die in der modernen Literatur umgesetzt wird in Romanen, in denen es Frauen sind, die die Golem-Tradition fortführen.
Marge Piercy ließ eine Feministin einen männlichen Golem programmieren.
Im Grunde ging es immer darum, eine menschenähnliche Gestalt zu schaffen, die zunächst nur rohe Masse, Lehm, Ton, Erde war und dann mit dem Namen Gottes durch Buchstaben oder Zahlenkombinationen lebendig werden sollte. Und dann wartete man auf das erste Augenzwinkern. Wiederholt handelt es sich bei der Variante der Buchstaben um die Buchstaben Alef, Mem, Tav, die hebräisch Emet (Wahrheit) bedeuten. Auf die Stirn geschrieben, regte sich das Wesen, bekam so etwas wie Vernunft, Wissen oder Gefühl. Löschte man den ersten Buchstaben Alef, blieben Mem + Tav = Met übrig, und das bedeutete Tod – also eine Art frühdigitale Ausschaltfunktion.
Die heutige Golem-Literatur für Kinder und Erwachsene ist fast schon unüberschaubar und findet sich seit Jahrzehnten in Romanen und amerikanischen Comics. Insbesondere in der Zeit der Schoa und des Kampfes der USA gegen Nazi-Deutschland wurde der Golem als eine Figur aktuell, die, wie in der alten Legende von Rabbi Löw in Prag, geschaffen wird, um das Böse zu bekämpfen und die jüdische Bevölkerung zu retten. Allerdings beginnen sie meist, die Aufgaben misszuverstehen, einen eigenen Willen zu entwickeln, Gefühle, und damit entgleiten sie ihren Erschaffern wie der Besen dem Zauberlehrling, da dieser noch nicht den richtigen Algorithmus zur Zerstörung des Besens kennt.
Doch das ist nichts weiter als der Preis der Vernunft. Chawa (Eva)war ziemlich unzufrieden, sie wollte Wissen, Denken, Vernunft. Deswegen sollte, so sagt die jüdische Überlieferung eindeutig seit dem Mittelalter, sich nur mit dem Golem beschäftigen, wer nach jahrelangem Studium eine gewisse Reife erlangt hat.
Cyborgs Die mystischen Zahlenkombinationen des Mittelalters und der frühen Neuzeit sind durch moderne Rechner, Formeln und Algorithmen ausgetauscht worden, doch die Entwicklung geht weiter. Die geschaffenen Cyborgs, Roboter, Maschinen, digitalen Technologien werden immer menschenähnlicher, entwickeln Eigensinn, Steuerungsmechanismen, die sich dem Menschen entziehen können.
Helfen sie oder schädigen sie auch wie der Golem von Prag? Sind wir ihre Meister oder meistern sie uns? Entscheidender noch: Können sie sich in der Realität entwickeln? Bedeuten Algorithmen, analoge Selbst-Steuerungen, einfach eine Zunahme von Wissen oder auch von Vernunft, und schließlich: Können körperliche Gefühle und seelische Befindlichkeiten sich über die Tätigkeit solch erwachsener Technologiewesen hinaus entwickeln? Gibt es also abgesehen von der künstlichen Intelligenz auch künstliche Emotion? Oder vielleicht auch eher künstliche Dummheit?
Alle neueren literarischen und filmischen Präsentationen männlicher oder weiblicher Golems bejahen das Potenzial der Entwicklung.
Alle neueren literarischen und filmischen Präsentationen männlicher oder weiblicher Golems bejahen das Potenzial der Entwicklung oder stellen es zumindest als Problem dar. Im Roman Er, Sie und Es von Marge Piercy ist es ein durch und durch männlicher Golem, der, wesentlich von einer jüdischen Feministin programmiert, den modernen jüdischen Traummann darstellt. Und im 2018 auf Netflix angelaufenen Film Zoe spielt Léa Seydoux das Primat der nächsten Generation – eben die selbstbestimmte Traumfrau. Zoe ist übrigens bedeutungsmäßig griechisch für die Lebensspendende, also Eva.
Schriftsteller Der Schriftsteller Isaac Bashevis Singer schrieb 1984 in einem Artikel in der New York Times mit dem Titel Der Golem ist ein Mythos für unsere Zeit: »Die vielen Schriftsteller, die den Golem-Stoff behandelten, empfanden in der Golem-Legende eine tiefe Verbundenheit mit künstlerischer Kreativität. Jedes Kunstwerk hat Elemente eines Wunders. Der Schöpfer des Golem war im Wesentlichen ein Künstler ... Der Abstand zwischen Wissenschaft und Magie, zwischen Wissenschaft und Kunst wird immer geringer.«
Golem ist ein Wort für die kreative Kraft des Menschen – und in ihr liegt auch etwas anderes: eine nie aufhörende Annäherung an das, was der Baum der Erkenntnis verbarg. Allerdings sollten wir nicht vergessen, dass Golems zunächst und vor allem Träume sind, in denen sich Wissenschaft, Kunst und unsere Sehnsüchte – auch die spirituellen – kreativ und immens real verbinden. Ein Golem ist eben eine Golem!
Der Autor ist Film- und Kulturwissenschaftler. Der abgedruckte Text basiert auf seinem Vortrag bei einer Veranstaltung der SCHUM-Städte zum Golem von Worms.