In der »Nachlese« ihres erstaunlichen Buches zur biblischen Figur Ruth schreibt Ilana Pardes, Professorin an der Hebräischen Universität von New York, Ruth habe den »Weg in die Herzen vieler hungriger Generationen gefunden«. Das trifft aber auch auf Pardes’ Buch zu, da dessen Lektüre die aktuellen Bedürfnisse nach einer zeitgemäßen Auseinandersetzung mit den grundlegenden Schriften des Judentums auf eine vorzügliche Weise zu stillen vermag.
Solche Bücher fehlten bisher auf dem deutschen Buchmarkt, der sich jahrzehntelang schwer damit getan hat, an die Tradition deutsch-jüdischer Verlage aus der Zeit vor 1933 anzuknüpfen, die ihrem Publikum die heute als klassisch geltenden jüdischen Kommentare zur hebräischen Bibel anbieten konnten. Von christlicher Seite gibt es auf dem Buchmarkt immer wieder neue Buchreihen, die sich jedem einzelnen Buch der Bibel exegetisch widmen. Es wäre zu wünschen, dass eine entsprechende Publikationsreihe mit Monografien zur Bibel aus jüdischer Perspektive in Angriff genommen wird. Pardes’ Buch würde für ein solches Projekt einen gelungenen Anfang bedeuten.
Entwurf Ilana Pardes hat ihre Biografie der Ruth für ein größeres Publikum geschrieben. Die fachwissenschaftlichen Anteile, die in den Kapiteln über den biblischen Text, seine rabbinische Rezeption in den Midraschim sowie seine Adaption in den mystischen Texten des Sohars zu finden sind, sind deshalb auch für einen Laien gut verständlich. Sie sind zudem spannend zu lesen, bieten sie doch Einblicke in die unterschiedlichen Methoden des Interpretierens der klassischen jüdischen Autoritäten, die sich durch tiefe Weisheit, aber auch durch ein schöpferisches Denken auszeichnen. Dadurch entsteht bereits in dieser ersten Phase der Rezeption der Gestalt der Ruth – trotz der Kürze des biblischen Textes – der Entwurf einer faszinierenden Frauengestalt, die im kulturellen Gedächtnis fest verankert ist.
In jedem der sechs Kapitel von Pardes’ Buch erhält Ruth durch die unterschiedlichen »Deutungsanliegen«, die an sie herangetragen werden, ein neues Leben: Für die Bibel ist sie die Migrantin, die an der Seite ihrer Schwiegermutter Noomi in die Heimat ihres verstorbenen Gatten zieht, für das rabbinische Judentum ist sie das Vorbild der Konvertitin, für die jüdischen Mystiker wird sie zum Urbild der Schechina im Exil, für die französischen Maler (beispielsweise Nicolas Poussin) bildet sie das Zentrum einer bukolischen Szene, für die Zionisten hingegen ist sie der Prototyp der Pionierin. Pardes zeigt jedoch auch Gegenbilder zu diesen in ihren Zeitaltern vorherrschenden Deutungen auf, die die schmerzliche Seite des Schicksals einer Migrantin aufweisen.
Im 20. Jahrhundert wird das Bild der biblischen Ruth durch die Erfahrungen mit dem Schicksal der Migration häufig negativ gezeichnet.
Dies geschieht zum Beispiel in einer Erzählung von S. J. Agnon »In der Mitte ihres Lebens« und in den Fotografien des Israelis Adi Nes, die mit ihren Adaptionen einen desillusionierten Blick auf das vermeintlich geglückte Leben der Ruth werfen. Vor allem im 20. Jahrhundert wird das Bild der biblischen Ruth durch die Erfahrungen mit dem Schicksal der Migration häufig negativ gezeichnet. Das gilt nicht nur für das Foto von Adi Nes, das obdachlose Frauen als Ährensammlerinnen zeigt, sondern auch für die amerikanische Sicht, die mit den Beispielen von Allen Ginsberg, Toni Morrison und dem Filmemacher Guillermo del Toro die qualvollen Erfahrungen einer Migration in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten dokumentiert.
Migration Pardes führt den Reichtum der unterschiedlichen weiblichen Erfahrungen von Migration, der sich in der biblischen Ruth findet, auf eine luzide Weise vor. Ruth, die zunächst an ihrem frühen Witwentum leidet, wird als Vorfahrin von David zu einer königlichen Gestalt, sie erhält in der Mystik göttliche Züge, die sie jedoch im Zeitalter der Säkularisierung zugunsten einer menschlichen Gestalt wieder verliert.
Im 20. Jahrhundert drängt sich aufgrund der leidvollen Geschichte der Migration erneut das Bild der Bettlerin, die auf dem Feld als Ährenleserin für sich und ihre Schwiegermutter einen kärglichen Lebensunterhalt einzuheimsen versucht, in den Vordergrund. Diese zahlreichen Facetten eines Schicksals zu vermitteln, ist das große Verdienst von Ilana Pardes.
Ilana Pardes: »Das Buch Ruth. Geschichte einer Migration«. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2022, 249 S., 24 €