Im Wochenabschnitt Nasso wird das Konzept des Nasiräertums vorgestellt. Ein Nasir ist eine Person, die für eine bestimmte Zeit ein Gelübde ablegt: keinen Wein zu trinken, sich das Haupthaar nicht zu scheren und sich nicht an Toten zu verunreinigen. Nach Ablauf der für das Gelübde bestimmten Zeit muss der Nasir sein Haar scheren. Er ist also eine Art zeitlich begrenzter antiker Mönch.
Unter den jüdischen Gelehrten des Mittelalters gab es eine Meinungsverschiedenheit bezüglich der Bedeutung des Wortes »Nasir«. So schreibt der Kommentator Raschi (1040–1105), es bedeute so viel wie »abgesondert« oder »getrennt«. Der Nasir sondert sich vom Genuss des Weines ab und wird daher Nasir genannt.
Laut dem Kommentator Abraham Ibn Ezra (1089−1167) bedeutet das Wort »Neser« so viel wie Krone. Der Nasir ist gekrönt, denn sein langes Haar gleicht einer Krone, die seine Enthaltsamkeit repräsentiert.
SEGEN Interessanterweise können viele Verse im Tanach in beide Richtungen interpretiert werden. So wird im 1. Buch Mose Josef von seinem Vater Jakow als »Nasir seiner Brüder« bezeichnet: »Die Segnungen deines Vaters waren stärker als die Segnungen der ewigen Berge, die köstlichen Güter der ewigen Hügel. Mögen sie auf das Haupt Josefs kommen und auf den Scheitel des Nasirs seiner Brüder« (1. Buch Mose 29,26).
Raschi meint, dass Josef laut dieser Aussage Jakows der Abgesonderte unter den Brüdern war. Laut Abraham Ibn Ezra hingegen war Josef der Gekrönte unter den Brüdern.
Wir wissen aus der Josefsgeschichte, dass beides stimmt. Josef wurde von seinen Brüdern verstoßen, der Pharao hatte ihn aber zu seinem Vertreter ernannt, wodurch er der Mächtigste unter den Brüdern war. Die verschiedenen Übersetzungen dieses Verses beziehen sich entweder auf die eine oder die andere Erklärung des Wortes.
Der Talmud lehrt, dass die Meinungsverschiedenheiten der Gelehrten oft nur zwei Seiten derselben Medaille darstellen und somit das Textverständnis vertiefen: Absonderung und Krönung. Enthaltsamkeit und Macht. Wenn man das talmudische Prinzip anwendet, so sind diese nur zwei Seiten derselben Medaille. Schon König Schlomo sagte: »Ein Geduldiger ist besser als ein Starker; und wer sich selbst beherrscht, ist besser als einer, der Städte einnimmt« (Mischlei 16,32).
Dieser Vers wird von den Rabbinen im berühmten Traktat Pirkej Awot, den sogenannten Sprüchen der Väter, mit den Worten: »Wer sich selbst beherrscht, ist wahrlich mächtig« kommentiert.
FRIEDEN Unser Wochenabschnitt enthält auch den berühmten Aaronitischen Segen. Dieser ist bis heute Teil des Morgengebetes: »Sag Aharon und seinen Söhnen und sprich: So sollt ihr sagen zu den Israeliten, wenn ihr sie segnet: ›G’tt segne dich und behüte dich; G’tt lasse Sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig; G’tt hebe Sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden‹« (4. Buch Mose 6, 23−26).
Die talmudischen Weisen gehen auf die Verbindung des Nasirs und des Aaronitischen Segens ein. »Der Nasir und der Segen wurden miteinander verbunden, da die Enthaltsamkeit des Nasirs zur Manifestation des Segens führt.« So heißt es im Midrasch Rabba.
Auch die oben genannte Aussage Jakows gegenüber Josef stellt eine Verbindung zwischen dem Segen und dem Nasiräertum her. Die Botschaft ist klar: Willentliche Enthaltsamkeit und Absonderung zugunsten eines höheren Ideals hat etwas Königliches an sich, ist Ausdruck echter Macht.
So schreibt Abraham Ibn Ezra auch, dass der Nasir seinen Namen von dem hebräischen Wort für Krone ableitet – denn die meisten Menschen sind von ihren Trieben versklavt, während der Nasir wie ein König in Freiheit lebt.
Wir lernen auch, dass dieser Ausdruck der Macht zur Manifestation von Segen führt. Segnung, Behütung, das leuchtende Antlitz G’ttes und seine Gnade sowie der Frieden − all dies wartet auf den Menschen, der bereit ist, sich zugunsten eines höheren Ideals von etwas zu enthalten.
TRIEBE Ich denke, wir können diese antike Weisheit sehr gut auf unser modernes Leben übertragen. Wenn man darauf verzichtet, Süßigkeiten zu essen, weil man den Körper gesund halten will, wenn man sich trotz des Triebes toxischer sexueller Beziehungen enthält und stattdessen die Würde und Selbstoptimierung wählt, wenn man, anstatt länger zu schlafen, die Zeit für Meditation und Sport nutzt …
In all diesen Fällen handelt man königlich, wählt nicht den leichten Weg, sondern den langfristigen Erfolg.
In einer Welt, in der fast jedes Vergnügen ohne größere Anstrengung zu erreichen ist, ist die Botschaft des Nasirs aktueller denn je. Die Fähigkeit, Belohnungsaufschub zu betreiben, ist eine der wichtigsten Fähigkeiten des modernen Lebens und wird in der Psychologie immer mehr erforscht.
Doch woher soll der Mensch die Kraft nehmen, dem Kurzfristigen zu entsagen und das Langfristige zu wählen?
Meiner Meinung nach kommt hier der Glaube an G’tt zur Geltung. Menschen haben nicht die Kraft zu warten, weil sie glauben, dass der Genuss ihnen dann wegläuft.
Wir leben in einer Welt, die das Potenzial für viel Frust, Stress und Erniedrigung in sich birgt. Toxisches Verhalten mit kurzfristigem Genuss kann einer Oase in der Wüste gleichen, die mentale Stärke, dieser zu widerstehen, einer Unmöglichkeit.
Doch der Glaube an G’tt ist der Glaube daran, dass die guten Dinge, die vom Herrn der Welten für mich vorbestimmt wurden, mich in dieser oder jener Form erreichen werden. Nichts läuft weg, außer der Chance für Wachstum. Wir verpassen nichts, wenn wir etwas Kurzfristiges aufgeben – außer der Möglichkeit, noch stärker zu werden. Es gibt daher keinen Grund zu fürchten, leer auszugehen.
Gleichzeitig bedeutet der Glaube, die moralische Verpflichtung zu tragen, geistig zu wachsen, andere im Ebenbild Erschaffene zu unterstützen und jede Möglichkeit zu nutzen, das eigene Potenzial, den inneren g’ttlichen Funken, voll zum Ausdruck zu bringen.
Der Autor studiert Sozialarbeit in Berlin.
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Der Wochenabschnitt Nasso setzt die Aufgabenverteilung beim Transport des Stiftszelts fort. Es folgen verschiedene Verordnungen zum Zelt und ein Abschnitt über Enthaltsamkeitsgelübde. Dann wird der priesterliche Segen übermittelt. Den Abschluss bildet eine Schilderung der Gaben der Stammesfürsten zur Einweihung des Stiftszelts.
4. Buch Mose 4,21 – 7,89