Im Traktat Brachot (61b) berichtet der Talmud vom qualvollen Märtyrertod des Rabbi Akiva. Die Römer hatten das Torastudium verboten, doch dies hielt den Gelehrten nicht davon ab, weiterhin Tora zu lernen. Er wurde zum Tode verurteilt und mit eisernen Geräten gefoltert.
Während der Folter rezitierte er das Schma Jisrael. Seine Schüler fragten ihn, wie er in solch einem Moment an das Gebot des Schma Jisrael denken konnte. Er antwortete ihnen, er habe sein ganzes Leben darauf gewartet, G’tt selbst im Moment des Todes mit ganzem Herzen lieben zu dürfen.
Rabbi Akiva repräsentiert wie kein anderer die Persönlichkeit eines Giganten der mündlichen Tora. Einerseits war er bereit, für den Text der Tora zu sterben, andererseits war er ein Pionier in der Interpretation der Tora und scheute sich nicht davor, im Text des Tanach immer wieder neue Entdeckungen zu machen.
Vision Die originelle Arbeitsweise Rabbi Akivas wird im Talmudtraktat Menachot (29b) in Form einer Geschichte anschaulich dargestellt: Einst durfte Mosche in einer Vision in die Zukunft schauen. Er fand sich in einem Vortrag von Rabbi Akiva wieder, doch er verstand nicht, worüber die Studenten sprachen. Dies beunruhigte ihn. Wird sich die Tora dermaßen verändern, fragte er sich. Daraufhin wollte ein Student von Rabbi Akiva wissen, wie er zu seiner halachischen Meinung gelangt sei. Rabbi Akiva entgegnete ihm, dass bereits Mosche diese Halacha am Berg Sinai empfangen habe. Als Mosche verstand, dass sich das zukünftige Judentum immer noch auf die am Berg Sinai empfangene Tora berufen wird, war er beruhigt.
Rabbi Akiva repräsentiert wie kein anderer die Persönlichkeit eines Giganten der mündlichen Tora.
Rabbi Akivas Persönlichkeit scheint zwei Seiten zu haben. Er ist einerseits ein treuer Student der Tora, ein Eiferer, der für das Wort G’ttes bereit ist, sein Leben zu lassen. Und auf der anderen Seite hat er keine Angst, im Wort G’ttes immer wieder neue Botschaften und Interpretationen zu entdecken.
Um die Einheit dieser beiden Seiten Rabbi Akivas und auch anderer talmudischer Weisen zu verstehen, müssen wir zunächst das Zusammenspiel von mündlicher und schriftlicher Tora verstehen.
Mystik Die jüdische Mystik unterscheidet zwischen der Chochma, der Weisheit, und der Bina, dem Verständnis. Während die Chochma das rohe Material repräsentiert, beschreibt die Bina die Fähigkeit, das Gelernte in einen Kontext zu stellen, dem Material eine konkrete und nutzbare Form zu geben.
Ähnlich verhält es sich mit den Worten der Tora im Verhältnis zu den Worten der Weisen. Die Verse der Tora gleichen Steinen. Die Analyse, Kontextualisierung und halachisch relevante Schlussfolgerung der Weisen gleicht dabei einem Bauwerk. Ohne die Steine gäbe es kein Bauwerk, doch ohne die Erbauer wären es lediglich Steine. Vielleicht ist das die versteckte Intention des Talmuds, wenn er die Toragelehrten mit Bauarbeitern vergleicht (Brachot 64).
Übrigens ist das hebräische Wort Bnia (Bauen) eng mit dem Wort Bina verwandt. Vielleicht ist dies auch die Intention der Tora im Wochenabschnitt »Waetchanan«.
Dort lesen wir: »Hütet und tut sie (die Anweisungen der Tora), denn sie sind eure Chochma und eure Bina in den Augen der Völker, die von diesen Gesetzen hören werden und sagen: ›Nur ein weises und verständnisvolles Volk ist diese große Nation‹« (5. Buch Mose 4,6).
Übrigens ist das hebräische Wort Bnia (Bauen) eng mit dem Wort Bina verwandt.
Die Fähigkeit der Bina ermöglicht einen anhaltenden Dialog mit dem lebendigen G’tt. Wenn dieser Dialog pulsiert, so wird dies auch für alle anderen Völker erkennbar.
Das Studium der Tora ist daher ein Dialog mit G’tt und die Gesetzesfindung ein Akt der Partnerschaft. Das Wort G’ttes offenbart sich uns im Laufe der Geschichte aus verschiedenen Perspektiven. Sie werden von echten Toragelehrten erkundet und stellen die äußere Manifestation der Tora dar.